Nennen wir ihn Diomedeus, nach seiner zoologischen Familie Diomedeidae, Albatrosse. Seit über 19 Stunden war Domedeus geradeaus geflogen, westwärts, ohne einen einzigen Flügelschlag. Das war leichter getan als gesagt. Man braucht dazu nur gut drei Meter Flügelspanne, mehr als zehntausend Flugstunden Erfahrung und die beständigsten Westwinde der Welt. Die legen auf Vierzig Grad südlicher Breite einen Gürtel um die Erde, zuverlässiger als die Winde auf der nördlichen Halbkugel, denn in den brüllenden Vierzigern, den »roaring forties« stört wenig Landmasse die Schiebewinde, die den zirkumpolaren Ozean in gleichmäßige Schwingungen versetzen. Diomedeus ließ sich in die Wellentäler fallen, die schmalen Schwingen – zu schmal für den größten Seevogel der Erde, sollte man meinen – beschrieben eine schwache Sinuskurve, ehe ihn die abgewehte Sprüh erreichen konnte. Die Aufwinde des Wellenhanges hoben das gefiederte Kreuz des Düdens einige Meter über die Wellenkämme, hoch genug, um gegen den Wind in denkbar flachem Winkel wieder hinabgleiten zu können. Zwei Wellen ließ Diomedeus durch rollen, die dritte ritt er wieder aus, ein Dreivierteltakt bei Windstärke sechs. Weltumseglertakt.
Als das Licht nur noch als diffuser Abglanz der Wolken auf dem Wasser lag, sah Diomedeus einen Schwarm silberglänzender Tintenfische knapp unter der Wasseroberfläche. Ein kurzes Zucken ging durch die Schwingen, die erste Andeutung eines Flügelschlages seit 19 Stunden … nichts schmeckt besser als Tintenfisch. Aber dann zog es den Wanderalbatros weiter westwärts mit einer Unerbittlichkeit, die er seit Wochen kommen gespürt hatte und die nun da war, wie auch die Bereitschaft, mit seinesgleichen mehr als die Unendlichkeit von Wasser und Himmel zu teilen.
Es würde wieder die Zeit kommen, in der man Monate lang kleine Kreise flog; der der Sommer stand als Versprechen in den Himmel geschrieben, gleißend blau am Tag und indigoblau mit silberzitternden Rändern in der Nacht.
In der zwanzigsten Stunde seines Nonstopfluges verstärkte sich der Wind, fast unmerklich, aber deutlich genug für einen Wanderalbatros. Diomedeus ging auf Viervierteltakt, ritt die Wogen noch einen Tick extremer aus, so dass die salzige Gischt seinen Schnabel netzte und ihn der Aufwind mit Fallgeschwindigkeit liftete. Der Gegenwind morste ein nervöses Vibrato auf seine Flügeldecken. Diomedeus flog jetzt den schmalen Grat zwischen Optimum und Absturz. Vielleicht muss man als Albatros 23 Jahre als werden, um so hart auf des Windes Schneide segeln zu können …
Es musste sein. Der Sommer war fast da, und da sollte man ebenfalls da sein. Vor ein paar Wochen hatte Diomedeus weit hinter dem Horizont die Südküste Afrikas gespürt; der Wind schmeckte ein wenig landig und ließ winzige Unregelmäßigkeiten erkennen. Und die Verführung war groß, sich auf Land zu setzen und die salzverkrusteten Nasenlöcher in Quellwasser frei zu baden. Aber Diomedeus zog es weiter.
Und endlich, nach 23 Stunden ohne Schlafpause auf dem Wasser, ohne Imbiss, ohne erholsamen Leerlaufflug sah er die kantige Silhouette. Vor zwei Jahren hatte er die Gough Inseln – etwa gleich weit von Kapstadt und Buenes Aires entfernt – verlassen, südwestwärts, immer gegen den Wind. Jetzt kehrte er von Osten kommend nach einer weiteren Weltumseglung zurück.
Als er wieder den Grat mit dem flammenden Fleck aus Flechten anflog, sah er den großen Vogel, der ein paar Dutzend Flügelspannen rechts von ihm den gleichen Kurs nahm. Diomedea.
Die beiden schossen gegen den Wind auf, synchron berührten ihre stämmigen Ruderfüße den Fels, dann drückten sie ihre Hälse gegeneinander und richteten sich flügelschlagend aneinander auf. Der Wind nahm ihre Begrüßungsschreie mit aufs Meer. Alles würde sein wie vor zwei Jahren.
Sie würden sich im wöchentlichen Rhythmus, 73 Tage lang, das Brutgeschäft teilen, würden dieses unglaublich plumpe, struppige Etwas mehr als acht Monate lang mit Nährschleim aus Krebsen und Tintenfischen vollstopfen, es vor Auskühlung und Raubmöwen schützen, schließlich dem Flugeleven beibringen, dass man um Gottes Willen niemals mit dem Wind startet …
Und eines Tages, wenn schon die Eiswinde ins Untergefieder bissen wie Parasiten, würde sich Diomedeus unvermittelt vom Westwind über Gough Island heben lassen, um abermals die Südhalbkugel zu umrunden, immer den fleischfarbenen Schnabel den »roaring forties« entgegengereckt. nach weiteren zwei Jahren würde er aus der Gegenrichtung zurückkehren an diesen winzigen Punkt im Südatlantik, wo der Wind nie schläft. Und Diomedea würde auch zurück sein, zuverlässig. Eine gute Ehe.