Mausmaki

Im Schlaf wird 00060DBC4B vermessen. Außerdem nimmt Giertz Gewebe-, Fell- und Kotproben und verpasst dem Tier einen Chip zur Identifizierung.

Foto: Dominik Baur

Forschen auf Madagaskar

Treffen mit dem kleinen Unbekannten

Was bewegt eine 28-jährige Doktorandin aus Stralsund dazu, am hintersten Ende der Welt bei 45 Grad im Schatten auf Kalkfelsen herumzuklettern? Wer bringt sie dazu, sich nachts durch dorniges Gestrüpp zu zwängen? Der Mausmaki. Eine Begegnung von zweien, die Extreme lieben.

Das ist heute nicht sein Tag. Dabei hatte alles so gut angefangen. Die Nacht war klar, der Mond schien halb, doch hell, zu essen gab es reichlich. Und dann wurde sogar dieser besondere Leckerbissen gereicht: Banane. So etwas bekommt man hier selten.

Doch gerade, als er sich auf den Gaumenschmaus stürzt, wird es zappenduster, ein metallischer Knall – und er fällt. Aus einer Höhe, die seine Körpergröße um ein Vielfaches übersteigt, stürzt er in die Tiefe. Dort liegt er nun zwei Stunden, vielleicht auch drei oder vier, in einer blechernen Falle, in die ihn sein Appetit getrieben hat. Bis er schließlich wieder in die Höhe gehoben wird, ein Türchen aufgeht und er im Schein einer Taschenlampe in das riesige Gesicht eines hellhäutigen Wesens mit roten Haaren blickt.

Nein, das ist wirklich nicht der Tag des kleinen Halbaffen, der später den Namen 00060DBC4B tragen wird.

Auch Peggy Giertz, das rothaarige Wesen, hat sich den Tag erfolgreicher vorgestellt. Nummer 00060DBC4B ist die gesamte Ausbeute der Fangnacht. Um 3 Uhr war die Biologin, die derzeit an der Uni Hamburg promoviert, zur Fallenkontrolle aufgebrochen. Zwei Stunden lang zwängte sie sich durch das dornige Gestrüpp des Fallengebiets F4 und klapperte 96 Fallen ab, die sie am Nachmittag zuvor aktiviert und mit einem Stückchen Banane für Mausmakis attraktiv gemacht hatte.

95 Mal ist die Falle leer. Nur ein einziges Mal, in der in einer Euphorbie aufgestellten Falle Nummer 39, wird sie fündig. Zwei Mitarbeiter haben inzwischen ein anderes Gebiet mit ebenfalls 96 Fallen abgelaufen – und kein einziges Beutetier mitgebracht. Früher hat Giertz bisweilen 10 bis 20 Tiere in einer Nacht gefangen. „Das gab es noch nie“, sagt sie. „Ich habe aber auch noch nie in dieser Jahreszeit gefangen. Es sind wohl einfach zu viele Früchte da, eine Banane ist da nicht mehr so interessant.“

Seit September 2006 ist Peggy Giertz jetzt mit Unterbrechungen hier in Tsimanampetsotsa, einem Nationalpark im äußersten Südwesten Madagaskars, und versucht dem Geheimnis des Microcebus griseorufus auf die Spur zu kommen, der Lemurenart, der auch 00060DBC4B angehört.

Microcebus griseorufus ist eines der wenigen Säugetiere in diesem unwirtlichen Terrain. Trocken, steinig und dornig ist es hier. Auf dem Kalkplateau in der Nähe von Giertz‘ Camp werden im Sommer Temperaturen von bis zu 45 Grad im Schatten gemessen – nur gibt es kaum Schatten. Und im sogenannten Winter sind die Temperaturen wenig niedriger. Allein die relativ nahe Küste, von der her oft ein erfrischender Wind über die karge Landschaft weht, macht es überhaupt möglich, das Klima auszuhalten.

Die Vegetation ist einzigartig. Die meisten Pflanzen sind endemisch, es gibt sie also nirgends sonst. Über 90 Prozent, gebe es ausschließlich auf Madagaskar, viele sogar nur in diesem Park, erklärt Yedidya Rakotomalala Ratovonamana. Der madagassische Botaniker forscht hier ebenfalls für seine Doktorarbeit.

Der steinige oder sandige Boden, die einzigartigen Sträucher und Bäume mit ihren gemeinen Dornen, die wirken, als seien sie schon ausgetrocknet, und die gleißende Sonne geben der Landschaft ein ungewöhnliches Aussehen. Giertz bezeichnet es gern als „bizarr“. Die Landschaft könnte ein Filmstudio als Kulisse für einen fremden, unwirtlichen Planeten entworfen haben: Alles soll zwar noch erkennbar sein, etwa als Bäume, Tiere, Seen – aber doch völlig anders als das, was wir kennen. Wenig Wunder nähme es, würden plötzlich Captain Kirk und Commander Spock zwischen zwei Bäume gebeamt.

Lemuren statt Delfine

Der Manampetsotse ist das Herz des Nationalparks, 85 Kilometer südlich des Städtchens Tulear: „See, in dem es Delfine gibt“ – der Name entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man auf den kleinen, flachen Salzsee blickt. Flamingos gibt es hier reichlich. Delfine aber dürften hier weit seltener gesichtet worden sein als Nessie in Loch Ness.

Irgendwann hat man das dann auch eingesehen und bei der Namensgebung des Nationalparks kurzerhand die verneinende Silbe „Tsi“ vorangestellt: Tsimanampetsotsa – da, wo es keine Delfine gibt. 2002 wurde das 43.000 Hektar große Gebiet zum Nationalpark erklärt. Erforscht hat die einzigartige Fauna und Flora lange Zeit niemand. Vereinzelt verschlug es eine Expedition in das Gebiet, hin und wieder auch Touristen, denen Führer der Naturschutzbehörde ein paar Highlights des Parks zeigten. Doch erst im Juni 2005 richtete die Universität Hamburg eine feste Forschungsstation in Tsimanampetsotsa ein, ein Jahr später kam Peggy Giertz.

Da, wo es keine Delfine gibt, leben dafür die nachtaktiven Mausmakis. Am besten erforscht in dieser kleinen Lemurenart ist der Microcebus murinus. Peggy Giertz untersucht jedoch den Microcebus griseorufus, wörtlich „grauroter Kleinaffe“. In gewisser Weise hat es die Wissenschaftlerin leicht: Alles, was sie über ihr Untersuchungsobjekt herausfindet, ist neu. „Am ‚Griseorufus‘ ist so faszinierend, dass man praktisch noch nichts über ihn weiß.“

00060DBC4B kommt in den OP, das heißt auf einen kleinen Holztisch im Materialzelt des Camps. Giertz beginnt sofort mit der Untersuchung. Die Biologin bereitet das „Operationsbesteck“ vor und macht sich dann an die Betäubung. Aus der Falle, einer handelsüblichen Sherman-Falle für Kleinsäuger, bugsiert sie ihr Entführungsopfer in eine Plastiktüte. Durch die Tüte hindurch verpasst sie dem kleinen Lemuren mit der Spritze 0,3 Milliliter des Narkosemittels Ketamin-Hydrochlorid. Binnen Sekunden schläft das Tier ein.

Noch in der Einkaufstüte wird der Mausmaki gewogen: 43 Gramm. Unterer Durchschnitt. Die Untersuchung beginnt: Zunächst entnimmt Giertz eine Gewebeprobe – indem sie dem Mausmaki ein Stück Ohr abschneidet. Dann die Vermessung: 11,5 Zentimeter ist das Microcebus-Männchen lang, sein Schwanz misst noch einmal 15,1 Zentimeter. Die Schwanzdicke ist ein gutes Indiz für den Zustand der Tiere, da sie hier einen Teil ihres Fetts speichern. Umfang 1,8 Zentimeter, das Tier steht gut im Futter.

Erst jetzt bekommt der Mausmaki noch den Identifizierungschip zwischen die Schulterblätter injiziert – und wird so auf den Namen 00060DBC4B getauft. Anhand der Nummer kann Giertz das Tier nun per Chiplesegerät jederzeit erkennen. 00060DBC4B ist das 127. Tier, das Giertz in eine ihrer Fallen gegangen ist. Für ihn war es das erste Mal, manche Artgenossen gehen immer wieder in die aufgestellten Fallen.

Das Fangen der Tiere ist nur eine Methode, mit der Giertz mehr über ihren Microcebus herausfinden will. Auch am nichtschlafenden Objekt betreibt sie ihre Forschungen: Zweimal im Monat geht sie vier Tage lang kurz nach Sonnenuntergang auf „Nightwalks“. Möglichst langsam schreitet die Wissenschaftlerin dann vorgegebene, vier Kilometer lange Routen ab.

Zwei weit aufgerissene Augen – mehr ist auf solchen nächtlichen Streifzügen zunächst nicht von den Mausmakis zu sehen. Giertz sucht die Bäume mit ihrer Stirnlampe ab. Das Licht wird vom Tapetum lucidum, einer lichtreflektierenden Schicht hinter der Netzhaut der Mausmakis, reflektiert. Deshalb hat sie die beiden roten Punkte im Baum schnell entdeckt. Nun erkennt man im Schein der Taschenlampe auch noch den Rest des kleinen Wollknäuels.

Living on the Edge

Mit Hilfe der gesammelten Daten, einer Bestandsaufnahme der im Gebiet vorkommenden Pflanzen, Gewebe- und Haarproben, Genanalysen und Kot-Untersuchungen will die Biologin noch viel mehr über den „Griseorufus“ in Erfahrung bringen: „Ich will wissen, wann er was frisst, wo er schläft, ob er wie andere Mausmakis eine Art Winterschlaf hält, ob die Populationen wandern. Und warum gibt es hier nur eine Mausmaki-Art?“

Vor allem aber interessiert sie eines: „Wie überlebt der ‚Griseorufus‘ hier? Das ist die trockenste und heißeste Region von ganz Madagaskar, monatelang fällt praktisch kein Regen.“ „Living on the edge“ nennt Giertz das, was sie schon immer interessiert hat. „Ich will wissen, wie er hier mit diesen Bedingungen klarkommt.“

Und sie selbst? Wie kommt sie mit solchen Bedingungen klar? „Eigentlich erstaunlich gut“, sagt die Frau, die das raue Klima des Nordens schätzt, von norwegischen Fjorden schwärmt und am liebsten ein Mal in der Arktis oder der Antarktis arbeiten würde. Nach der ersten Woche im Camp sei sie zwar erstmal krank geworden, aber seither gehe es gut.

Nur hin und wieder verzweifelt auch sie – an der Hitze, der Einsamkeit, dem eklatanten Mangel an Schokolade. „Am Anfang war das einfach nur Abenteuer pur. Inzwischen fühle ich mich manchmal ausgelaugt.“ Bis Frühjahr 2009 wird Giertz bleiben, um Daten für ihre Doktorarbeit zu sammeln. Noch länger, das kann sie sich nicht vorstellen. Dann schon lieber Südpol.

Nummer 00060DBC4B wird wohl etwas länger bleiben. Ein paar Stunden muss er noch in Gefangenschaft zubringen. Am Nachmittag wird ihn seine Entführerin dann genau an der Stelle, wo er ihr in die Falle ging, wieder freilassen. Das Leben im Extrem geht weiter.

Erschienen auf Spiegel Online 3/08