Wenn sich ein Vater mit seinem Sohn in ein Abenteuer stürzt, fängt er noch mal ganz vorn an. Respekt? Muss er sich erarbeiten. Vorbild? Von wegen. Oft verschiebt sich die Perspektive, wenn der sportliche Sprössling mit dem Mountainbike vorfährt und der geräderte Erzeuger immer hinterher muss. Autor Michael Schophaus und sein Sohn Simon gingen das Wagnis ein, ihre Beziehung und ihre Kondition unter recht harten Bedingungen zu testen. Sie fuhren die Alta-Rezia-Runde vom Ortler zum Bernina, eine anspruchsvolle Alpenüberquerung durch Italien und die Schweiz.
Es wurde eine Tour, die an den Nerven, an der Kraft, aber oft auch an der Autorität des lieben Herrn Papa zerrte. Sie stritten, fluchten und fürchteten sich. Aber am Ende lagen sich beide in den Armen. Weil es ein Erlebnis war, das sie nie mehr vergessen werden.
VATER
Das da vorn kann nicht mein Sohn sein. Nicht dieser zarte Mensch von hinten aus dem Kindersitz. Wie dankbar war er doch, als er dort brabbelnd auf dem Rad saß und ich ihm oberhalb des Blitzventils die Welt erklärte. Und jetzt? Dreizehn Jahre später? Lächelt er eiskalt zu mir herunter und ruft mir hinter seiner coolen Sonnenbrille zu, dass ich mich beeilen soll. Hey, Alter! Sind ja nicht zum Spaß hier.
Was für eine blöde Idee, mit diesem frechen Pubertanten über hohe, sehr hohe Berge zu strampeln. Der Schweiß perlt mir aus dem Helm, und mein weich gekochtes Hirn will nur noch in den Schatten. Ich blicke nach oben. Serpentinen sind so brutal ehrlich. Sie fressen sich über die Hänge und zeigen dir ständig, wie stark der Abstand wächst. Er wächst. Und wie. Noch dreißig Kehren bis zum Gipfel. Zwischen uns liegen dreihundert Meter und schlappe einundvierzig Jahre. Als kleiner Junge beleidigte er mich immer gern. Journalisten sind ja bloß Typen, sagte er, die den ganzen Tag im Drehstuhl sitzen und Zeitungen zusammenfalten. Hat er etwa gerade in den Staub gespuckt?
Drei Stunden später habe ich den Umbrailpass auf 2500 Metern erreicht. Mein Sohn ist längst da. Er fläzt sich auf der Bank vor einer Berghütte herum. Sie ist geschlossen, außerdem fängt es auch noch zu regnen an. Ich schnappe nach Luft, biete einen erbärmlichen Anblick. Hätte ich bloß besser trainiert. Aber hätte, hätte, Fahrradkette! Eine Radlergruppe aus unserem Gasthof von letzter Nacht in Santa Maria kommt gerade hoch, sieht mich sterben und bietet an, dass mein Sohn mit ihnen in den nächsten Ort fährt. Ich nicke. Will ihm mein respiratorisches Siechtum ersparen. Will nur noch runter, und zwar den sicheren Weg. Über den Asphalt des Ofenpasses nach Livigno, vierzig nasse Kilometer. Später erzählt mir mein Sohn, wie toll seine Tour war. Fetter Downhill, Papa, Ortler und das Stilfser Joch gesehen! Und ich? Sah ein paar Autos auf der Straße. Es kann nur besser werden.
SOHN
Eigentlich sollte ich ja zu meinem Vater aufblicken. Aber heute muss ich ständig auf ihn runtergucken. Er kommt am Berg einfach nicht nach.
Dabei ist es am Morgen noch andersherum. Als sich ein faltiges Gesicht über das meine beugt und mich auf väterlich freundliche Weise um halb sieben zum Kettenfetten ermuntern will. Stolz erzählt er mir beim Frühstück von seiner wochenlangen Vorbereitung und was für tolle Sachen er schon als Journalist gemacht hat. Huskytour in Lappland, Überlebenstraining in Schweden, was weiß ich. So langsam habe ich doch Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, mit dem natürlichen Feind eines Fünfzehnjährigen über die höchsten Berge zu radeln, die man in den Alpen finden kann.
Meine Meinung ändert sich schlagartig, als ich das frisch polierte Mountainbike besteige. Munter trete ich los, frage mich jedoch nach einer halben Ewigkeit, wo mein Vater bleibt. Der kämpft sich ein paar hundert Höhenmeter unter mir die Straße hoch. Immer wieder warte ich, bis er aufschließt. Oben angekommen, vor einer Hütte, keucht er mir seine Kapitulation entgegen. Aber jetzt schon wieder runterfahren? Kommt nicht in die Tüte! Nach längerem Zögern trennen sich unsere Wege. Ich schließe mich einer Gruppe an, die aussieht, als würde sie sich nicht nur von Müsliriegeln ernähren. Ziemlich viel Bauch, aber gut drauf.
Wir fahren in heftigem Regen über glitschige Trails, die mich beinahe aus dem Sattel schmeißen. Immer wieder denke ich an meinen Vater. Zumindest, wenn es mir die Strecke erlaubt. Durchnässt, frierend und mit schlammigem Rad erreiche ich abends um sieben den Gasthof in Livigno. Mein Lohn dafür ist das schelmische Grinsen meines lieben Vaters. Der sitzt bereits mit einem kühlen Bier im Warmen. Noch lacht er!
VATER
Es wird besser. Das Wetter, die Stimmung, die Kraft. Habe meine Angst vorm Versagen letzte Nacht mit den Kissen erstickt. Aber die Sorge um meinen Sohn steckt mir noch in den Knochen. Bin ich jetzt ein schlechter Vater? Weil ich gestern schon beim Bier saß, als der triefende arme Kerl bei Blitz und Donner zu mir herunterschlitterte? Spätestens zwischen zwei Frühstückseiern nehme ich das sofort wieder zurück. Mein Gewissen wird so rein wie die Milch, die vor mir steht. Ist doch alles Pillepalle, fällt meinem Sohn aus dem lässigen Antlitz. Ich glaube, Pillepalle ist die Steigerung von jämmerliches Weichei.
Heute wollen wir 72 Kilometer bis ins Engadin, über 1700 Höhenmeter. Die Sonne knallt vom Himmel, wieder tritt mein Sohn in die Pedale, als gäbe es kein morgen. Ich würde ihm gern mal das segensreiche Prinzip des Windschattens erklären. Aber der Herr Leistungssportler ist einfach zu weit weg, als dass ich mich hinter ihm vor den Böen verstecken könnte. Er ist Sturm und Drang. Ich ein laues Lüftchen. Was soll ich tun? Nach dem Passo Alpisella kommt gleich der nächste Anstieg, der schmale Weg quält sich durchs Val de Gallo hoch. Ich auch. Nur nicht runtergucken.
Wir müssen absteigen, es wird nun tatsächlich zu gefährlich. Unter uns, neben uns, überall lauert steiles Grauen. Ein falscher Schlenker, und du stürzt ab. Da ist kein Zaun, kein gar nichts. Wir schieben unsere Räder. Sohn will fahren, Vater sagt Nein. Pubertät trifft auf Altersstarrsinn. Klugscheißer auf Klugscheißer. Ich setze mich durch, dann wird es doch noch ein wunderschöner Tag. Mit atemberaubenden Abfahrten, die mir zwar die Herzkranzgefäße verengen, aber für immer unvergesslich bleiben. Abends liegen wir nebeneinander im Bett, machen Notizen. Was er wohl über mich schreibt? Ich denke an die Kehren in der Wand und kritzele in den Block: Drum prüfe, wer sich ewig windet. Ist das schon die Höhenluft?
SOHN
Alles feucht heute morgen, meine Schuhe quietschen mit jedem Tritt in die Pedale. Der gestrige Tag ging weder am Rad noch an mir spurlos vorbei. Mit meinem ächzenden Vater, der scheinbar neuen Mut gefunden hat, geht es jetzt hoch hinaus. Hier und da muss er schieben, aber er macht sich ganz gut. Wenn es auch meist ein Hochwuchten seines Rads ist, auf dessen Sattel er eigentlich sitzen sollte.
Zum Glück steht die Sonne auf unserer Seite. Aus glitschigen Wegen nach oben werden staubige Trails nach unten, aus quietschenden Bremsscheiben glühende Eisen. Schließlich fasse ich einen Entschluss, der mir und meinen Beinen noch zum Verhängnis werden soll. Ich drehe mich um und packe den alten Herrn am Rucksack. Trotz der Erkenntnis, wie schwer mein Vater wirklich ist, beginne ich, ihn zu schieben. Vor vielen Jahren zog er mich noch mit Stützrädern die Spielstraße entlang. Nun bin ich wohl langsam an der Reihe.
Nach zwei heftigen Stunden und dem Motto »Wer seinen Vater liebt, der schiebt« schießen wir eine Passstraße hinunter. Ein Gefühl wie ein Rausch breitet sich in mir aus, der Asphalt huscht vorbei. Über siebzig Sachen! Alles um mich herum blende ich aus. Alles bis auf das Rufen meines Vaters, ich möge doch ab und zu auch mal bremsen.
VATER
Ich beginne unser Abenteuer zu genießen. Mein Körper hat sich an die Schmerzen gewöhnt. Wie schön ist es doch, das Glück meines Sohnes zu sehen. Wenn auch nur von hinten. Wir fahren durch Pontresina, dieses teure Kaff in der Nähe von St. Moritz. Jetzt nur keinen Porsche streifen. Von Weitem blitzt der Morteratschgletscher, auf einem Waldweg nimmt der Wahnsinn seinen Lauf. Treten, treten, treten! Es ist nur knapp über null Grad. Aber auf meinen Oberschenkeln glänzt der Schweiß.
Wir klettern auf knapp 2300 Meter, treten vom Berninapass Richtung Lago Bianco. Vater will bald Pause. Sohn nicht. Wäre ja auch zu schön gewesen. So am See sitzen, frisches Wasser trinken und über die geomorphologische Auffaltung der Berge sprechen. Doch ein fetter Downhill wartet auf uns. Wir brettern über Schotterwege, bei denen du über Höhenangst nicht mal nachdenken solltest. Ich spüre derweil, wie gut sich Gewicht, Vortrieb und Geschwindigkeit ergänzen. Meine neunzig Kilo schießen kaltblütig an meinem Sohn vorbei. Er hat nicht mal mehr Zeit zu staunen. Schnell, wie ich bin.
Am Nachmittag springen wir in den eiskalten Lago di Poschiavo. Helden, die wir sind. Dann nass in die Sachen und weiter nach Tirano, in die warme Lombardei. Es sind nur zehn Kilometer Schussfahrt, aber es ist wie der Ritt in eine andere Welt. In Tirano erwarten uns Palmen, Pizzerias, Palazzi – und die Rhätische Bahn. Simons Stollenreifen werden von der Schiene geschluckt, er stürzt, streift eine Hauswand, schürft sich Arme auf, Hüfte und Beine. Heiliges Schutzblech! Da übersteht er die schärfsten Trails der Alpen und kippt dann so auf einer bescheuerten Schiene um. Aber er verzieht keine Miene. Ich bin stolz auf ihn.
SOHN
Man könnte meinen, es ist Winter. Auch das dritte Paar Handschuhe, das ich über meine dunkelblauen Hände streife, ändert nichts an der Kälte. Das Einzige, was mich motiviert weiterzufahren, ist der Blick auf die schneebedeckten Bergspitzen. Trotz der harten Bedingungen verbringen wir einen tollen Tag. Wir klettern, das Rad oft geschultert, unvergesslichen Landschaften entgegen.
Wieder mal rasen wir einen Alpenpass hinunter. Mit Geschwindigkeiten, die den Kontrollverlust geradezu provozieren. Umso größer ist die Erleichterung, als wir das Ziel vor Augen haben. Doch dann kommt mein dummer Sturz auf der Schiene, ich überschlage mich ziemlich hässlich. Bleibe ein paar Meter weiter liegen, ärgere mich schwarz. Meine Haut brennt. Ob ich morgen weiterbiken kann?
VATER
Heute fahren wir fünfzig Kilometer an einer viel befahrenen Bergstraße entlang. Die schnellste Strecke nach Santa Caterina, unserem nächsten Ziel. Was für eine wunderbare Ausrede für mich, den kürzeren Weg zu nehmen: Mein Sprössling hat Schmerzen. Mister Cool muss sich schonen, weil sein Hintern brennt. Und ich bin eben ein sehr rücksichtsvoller Vater.
SOHN
Gefräßiges Schweigen zwischen uns beiden. Hastig stopfen wir uns beim Frühstück große Marmeladenbrote in den Mund. Wir brauchen Kraft, jetzt folgt der Höhepunkt der Tour. Direkt neben dem Gasthof steigt der Berg steil an. Mein Vater erstaunlicherweise voran, ich hinterher, so schnell dreht sich der Spieß um. Mittlerweile kann ich gerade mal wieder sitzen. Und heute müssen wir auf über 3000 Meter hoch. Ein Höllenritt. Wobei die Hölle noch auf sich warten lässt, zumindest bis zur Pizzinihütte auf 2703 Meter. Und verglichen mit den 300 Höhenmetern, die jetzt noch auf uns zukommen, war der Weg bis hierher die reinste Spazierfahrt. Aber mit Fahren ist nicht mehr viel, wir schieben die Räder. Das heißt, eigentlich tragen und stoßen wir sie an steilen Hängen vor uns her, während wir auf die gewaltige Königsspitze blicken.
Mein Vater steht unter mir. Erschöpft beugt er sich über den Lenker, er scheint die Nase voll zu haben. Jetzt bloß nicht aufgeben! Immer wieder lege ich mein Bike ab, um dann hinunterzuklettern und das seine hochzuhieven. Mein müder Erzeuger hat mit seinem Rucksack schon genug zu tragen. Rauf. Runter. Rauf. Runter. Das machen wir eine ganze Stunde so. Hochtragen, ablegen, wieder nach unten, wieder hoch. Und das alles für das triumphale Lächeln meines Vaters, als er endlich mit stolzgeschwellter Brust neben dem Schild »Passo del Zebrù« steht. Er kann wohl selbst kaum fassen, es hier hoch geschafft zu haben. Er klopft mir unzählige Male auf die Schulter, ist sichtlich auch stolz. Aber jetzt wartet noch der Abstieg. Und der hat mit Radfahren nichts mehr zu tun. Wir klammern uns an Drahtseile, hangeln uns durch Schneefelder. Müssen die Räder über tosende Gebirgsbäche wuchten und wandern an Abgründen entlang. Zum allerersten Mal sind wir völlig einer Meinung: Wir haben beide Schiss!
VATER
Warum tue ich mir das nur an? Der junge Hüpfer springt den Berg hinauf, als wär’s nur eine Bordsteinkante. Er selbst nennt das langsam. Für eine Stunde lässt er mich sogar vorbei, bleibt aber dicht hinter mir. Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken. »Betreutes Fahren!«, ruft er grinsend. Komm Junge, denke ich, zeig’s ihm, du warst doch auf dem Kilimandscharo. Aber ich sehe immer älter aus.
Irgendwann stehe ich dann auf 3006 Meter. Hochgewuchtet von meinem Sohn, diesem guten Geschöpf. Es ist arschkalt, der Wind wütet. Wir rutschen über tiefen Schneematsch, der an einer Felsscharte klebt. Es ist unfassbar steil, ich steige ab, finde kaum Tritt mit meinen Radschuhen. Auch mein Sohn wird immer stiller. Eine falsche Bewegung, und das war’s. Wir müssen uns einen Klettersteig runterhangeln. Eine Hand krampft sich ans Drahtseil, die andere hält das Rad. Ich schwitze, auch vor Angst. Erst nach einer Stunde haben wir diese mörderische Tiefe hinter uns, die uns ständig herabziehen wollte. Das Tal wird weiter, wir dürfen wieder auf die Sättel springen. Von meinen Waden fließt Blut, ich habe sie mir mit den Pedalen aufgeritzt. Ich weine. Ich lebe noch. Wir leben noch.
SOHN
Nur noch fünfzig Kilometer bis zum Ende unserer Tour. Auf die Strecke achte ich kaum mehr, zu viele Eindrücke schwirren in meinem Kopf herum. In Santa Maria überkommt uns große Erleichterung. Wir haben es geschafft, die ganze Strecke durchgehalten. Wir fallen uns in die Arme. Glücklich. Stolz. Aber auch verdammt fertig. Sechs Tage stecken uns in den Beinen, mein Sattel reibt auf rohem Fleisch. Beim Absteigen komme ich mir fast so alt vor wie mein Vater. Es war gar nicht so schlimm mit ihm. Und wer weiß, wohin es uns das nächste Mal treibt. Im Schlauchboot durch den Ärmelkanal? Barfuß auf den Everest? Abends bei der Rückfahrt im Auto frage ich ihn: »Sag mal, Papa, warst du schon mal auf dem Mond?«
VATER
Bei der letzten Etappe schaue ich auf weiße, mächtige Berge. Mein Sohn und ich fahren nebeneinander, schweigen uns glücklich an. Er sieht müde aus, der Kleine. Dann kommen wir an. Unten in Santa Maria nehme ich ihn lange, sehr lange, in die Arme. Spüre seinen Puls, sein großes Herz. Ich glaube, er schwitzt nicht einmal. Er ist ja so ein freundlicher junger Mensch, der seinen Schöpfer nie im Stich gelassen hat. Wir packen unser Zeug ins Auto. Gucken noch mal hoch. Wir hatten ein paar Tage nur für uns. Ein paar Tage, die uns einander viel näherbrachten, obwohl mein Sohn so oft vorausgefahren ist. Unser Abenteuer ist vorbei.
Er muss wieder in die Schule. Und ich zurück in den Drehstuhl, Zeitungen zusammenfalten.