Man wusste, es würde passieren. Irgendwann. Bald. Um 150 Meter hatte sich die Nordflanke des Mount St. Helens bereits ausgebeult; in seinem Innern mussten Höllenkräfte darauf warten, freigesetzt zu werden. Serien von Erdbeben und Dampfausbrüchen waren registriert, das Gebiet im US-Bundestaat Washington weitgehend evakuiert worden. Der Berg war fällig. Aber wann? Und wie?
Es kam dann ganz plötzlich. Um 8.32 Uhr Ortszeit am 18. Mai 1980 erschütterte ein Erdstoß der Stärke 5.1 den Berg, und die instabile Nordflanke rutschte komplett ab. Wie ein Dampfkochtopf, bei dem der Deckel reißt, explodierte der Berg. Magma und Wasserdampf unter ungeheurem Druck wurden frei, eine 300 Grad heiße Glutlawine raste zu Tal und überholte mit bis zu 1000 km/h noch die Massen des Bergsturzes. Sie verbrannte alles, was in ihrem Weg stand. Selbst auf dem 10 Kilometer entfernten Bergkamm, auf dem der Vulkanologe David Johnston den Berg beobachtete, wurden Bäume und Erdreich bis auf das Grundgestein wegrasiert. Auch Johnstons Leiche wurde nie gefunden.
Auf einer Fläche von 600 Quadratkilometern war sämtliches Leben vernichtet. Was blieb, war eine graubraune, schlammig-felsige Ödnis, die an manchen Stellen noch wochenlang dampfte. Das Tal des North Fork Toutle River war Dutzende Meter hoch mit Schlamm und Schutt gefüllt. Würde hier je wieder Leben einkehren?
„Wir waren wie vom Donner gerührt, als wir das sahen“, erzählt der Ökologe Charlie Crisafulli, der als 22-jähriger Student kurz nach dem Ausbruch erstmals das Gebiet besuchte – im Hubschrauber, denn die Straßen waren zerstört. „Wir kamen von Norden“, erzählt er, „aus den grünen, feuchten, üppigen Wäldern der Cascade Mountains, und plötzlich flogen wir in diese graue Wüste. Und das verblüffende war nicht nur das Ausmaß der Zerstörung, sondern auch, dass alles innerhalb weniger Minuten passiert war.“
Die erfahreneren unter den Ökologen begriffen sofort, was hier entstanden war: das größte Freiluftlabor der Welt. Die zerstörte Landschaft – inmitten der weltweit führenden Wissenschaftsnation – bot die Chance, genauer als jemals zuvor zu beobachten, wie ein komplexes Ökosystem wiederersteht. Und dabei die gängigen Vorstellungen von Sukzession, wie man die allmähliche Besiedlung einer Ödfläche nennt, zu überprüfen. Denn die waren bis dahin im Prinzip recht schlicht gewesen: Man ging davon aus, dass sich zuerst Pionierarten ansiedeln, die konkurrenzschwach sind, aber mit den neugeschaffenen Bedingungen am besten zurecht kommen; dass in den folgenden Phasen die Konkurrenz zwischen den Arten dominiert und sich das Artenspektrum allmählich verschiebt; bis sich am Ende ein Endzustand einpendelt, eine sogenannte Klimax-Gesellschaft, die ein stabiles ökologisches Gleichgewicht bildet.
Am Mount St. Helens wurden diese und andere Gewissheiten nachhaltig erschüttert. Die Ökologen mussten feststellen, dass ein bis dahin unterschätzter Akteur eine Hauptrolle spielte: der Zufall. Pflanzensamen wurden zufällig auf das Ödland geweht und keimten, wenn dort ein Wapiti-Hirsch einen Haufen hingesetzt hatte – oder auch nicht. Arten, die nach der Theorie spät erwartet wurden, erschienen früh, andere wie primitive Moose dagegen spät oder gar nicht. Zwei verschiedene Arten von Lupinen, die Kaskaden-Lupine und die Prärie-Lupine, die man bis dahin unterschiedlichen Pflanzengemeinschaften zugeordnet hatte, blühten zu Hunderttausenden einträchtig nebeneinander. An manchen Stellen bildete das Schmalblättrige Weidenröschen regelrechte rotleuchtende Wiesen; an anderen waren plötzlich Hunderte Sämlinge der Pazifischen Edel-Tanne gesprossen, nur um im folgenden Jahr alle einzugehen. Auf manchen Untersuchungsflächen nahm die Artenvielfalt sprunghaft zu, um dann wieder abzunehmen. „Für viele Ökologen ist das schwer zu akzeptieren“, sagt Jerry Franklin, Professor für Ökosystem-Analyse an der University of Washington; „sie geben sich wahnsinnige Mühe, Theorien aufzustellen, und dann stellt sich immer wieder heraus, dass die Theorie nur für Einzelfälle gilt.“
Eine erstaunliche Rolle spielten beispielsweise die Taschenratten. Diese kleinen Nager, die außerhalb der Todeszone in Felsspalten und Erdhöhlen überlebt hatten, erwiesen sich als wahre Biotop-Baumeister. Durch ihr permanentes Graben und Bauen schichteten sie nicht nur die Erde um und vermengten dabei fruchtbare und unfruchtbare Bodenhorizonte; sie schufen nebenbei auch unzählige Amphibienverstecke. Weil nämlich durchziehende Hirsche mit ihren Hufen immer wieder in die knapp unter der Oberfläche liegenden Baue der Taschenratten einbrachen, entstanden dort Zugänge zu feuchten und geschützten Refugien – die verschiedene Amphibienarten gerne annahmen.
Eindrücklich war auch die Erkenntnis, wie sehr die Überbleibsel aus der Zeit vor der Katastrophe den Neuanfang bestimmen. Diese „Legacies“ sind das neue Zauberwort der Ökologen. Es beschreibt die organische Materie, tot oder lebendig, die der Ausbruch übrig gelassen hat und die nun den Neuanfang anstößt: in der Erde verborgene Wurzeln, Samen, Pflanzenteile und Reste fruchtbaren Bodens; und nicht zuletzt hundertausende Baumstämme, die von der Wucht der Explosion geknickt worden waren wie Grashalme und die nun die Hänge bedeckten und die Bäche verstopften. Aus all diesem Material begann der Neuanfang. Das Land war mitnichten die komplette tabula rasa, die es auf den ersten Blick zu sein schien. „Wenn man genau hinsah“, erzählt Charlie Crisafulli, „dann erkannte man, dass an vielen, vielen Stellen doch etwas überlebt hatte. Nur etwa zwei Prozent der blast zone (der durch die Glutwolkenexplosion beeinträchtigten Fläche) waren tatsächlich ohne jedes Leben.“
Die Bäume hielten eine weiteren Aha-Effekt bereit. Waldbesitzer, private wie öffentliche, holten in den Monaten nach der Eruption Hunderttausende Festmeter umgeworfenener Bäume aus dem Gebiet – es war schließlich bares Geld. Außerdem, so wurde argumentiert, erhöhe die riesige Menge Totholz die Gefahr von Waldbränden und Käferkalamitäten. Doch die wissenschaftliche Analyse ergab das Gegenteil: In den nicht aufgeräumten Gebieten erholte sich der Wald schneller, und er wies zudem eine höhere Artenvielfalt auf. „Unordnung ist manchmal gut“, sagt die Biologin Virginia Dale vom Oak Ridge National Laboratory, die besonders in den ersten Jahren intensiv am Mount St. Helens forschte: „Wir Menschen haben diesen Reflex, immer sofort sauber machen zu wollen. Aber die Natur ist nicht sauber.“
Auch ein anderer Versuch, die Regeneration des Ökosystems zu beschleunigen, ging gründlich schief. Um die kahlen Hänge zu begrünen, wurden aus Hubschraubern riesige Mengen Grassamen ausgebracht, vermischt mit einem natürlichen Klebstoff, damit sie an den Hängen haften blieben. Doch die Samen wurden trotzdem weggespült, statt zu keimen, und sammelten sich in den Tälern an, wo das plötzliche Nahrungsangebot die Zahl der Mäuse explodieren ließ – die dann, als der Vorrat aufgebraucht war, aus Not die Jungbäume anknabberten und dadurch die Wiederbewaldung verzögerten.
Dass die vielfältigen Unwägbarkeiten so eine starke Rolle spielen, bedeutet aber auch: Es gibt keine Garantie, dass nach einer Störung wieder das gleiche Ökosystem entsteht wie vorher. Obwohl die „Legacies“ und die geografischen Rahmenbedingungen die Richtung vorgeben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der jahrhundertalte Bergmischwald, der vor dem Ausbruch am Mount St. Helens existierte, nicht in exakt gleicher Form wieder entstehen wird. Der Klimawandel wird das Artenspektrum verschieben, vielleicht siedeln sich mehr Kiefern an und weniger Tannen; man weiß es nicht.
„Es gibt immer mehrere Zukünfte“, sagt Anke Jentsch, die an der Universität Bayreuth die einzige deutsche Professur für Störungsökologie innehat. „Es ist nicht klar, ob nach einer Störung das Ökosystem wiederhergestellt wird oder ob ein anderes entsteht.“ Jentsch und ihre Mitarbeiter erforschen in ausgeklügelten Experimenten, wie Ökosysteme auf Störungen reagieren. Sie setzen Wiesenstücke extremem Starkregen, Trockenheit oder Frostwechseln aus und dokumentieren die Veränderungen. Wie reagieren einzelne Pflanzen; nimmt die Produktivität des Systems zu oder ab; wie verschiebt sich das Artenspektrum?
Solche Forschung soll erweisen, wie viel Störung ein System erträgt – und wie es darauf reagiert. Dabei ist es Ausdruck einer in den letzten Jahren gewandelten Sichtweise, weniger von „Störung“ zu sprechen als eher von „Dynamik“. Und wenn ein Ökosystem sich wandelt, nennt man das nicht mehr wie früher „Degradation“, als der Verlust des gewohnten Zustands automatisch als Verschlechterung galt. „Man versucht heute möglichst wenig zu werten“, sagt Anke Jentsch. „Die Frage ist im Grunde immer: Welche Folgen hat die Dynamik, wann beginnt das System sich so zu verändern, dass es nicht mehr dasselbe ist?“
Die Landschaft um den Mount St. Helens wird unterdessen mit jedem Jahr grüner und üppiger. Die herumstehenden abgebrochenen Baumstämme, eingerahmt von sattgrünen Jungbäumen oder von golden wogendem Präriegras, wirken immer mehr wie Land Art. Charlie Crisafulli, der seit 1989 in Diensten des US Forest Service steht, hat inzwischen sein gesamtes Forscherleben am Mount St. Helens verbracht. „Ich bin absolut dankbar dafür, dass ich hierauf meine Karriere gründen konnte“, sagt er. „Das alles hier beobachten zu können, wie das Leben weitergeht, wie es zurückkehrt, wie es sich verändert – das ist so eine großartige Metapher. Und es ist immer wieder überraschend.“