Früh am Morgen kauft er als erstes die „Bild“-Zeitung und schaut, wer vorne drauf ist. Je nachdem hängt er die Titelseite später in seinem Schrebergarten auf. Und zielt. Mit dem Luftgewehr. Auf diese Weise hat er Thilo Sarrazin drei Wochen lang durchsiebt. Bis der nächste Kandidat an der Reihe war.
August sitzt auf der kargen Bühne des Münchner Prinzregententheaters, das Gewehr auf dem Schoß, und räsoniert. In stockenden Sätzen, auf Hessisch und mit einem Gesichtsausdruck, der die Tragik des einsamen Rentners ebenso zum Ausdruck bringt wie den Zorn, den er gegen den ausufernden Kapitalismus hegt. August, der alte Kämpe, ist eine der Figuren, die der Kabarettist Georg Schramm immer wieder auftreten lässt: gelernter Drucker, seit 40 Jahren Sozialdemokrat, der gerne ein, zwei Schoppen zu viel trinkt und seinem Vater nicht unähnlich ist. Nun also hockt August im Schrebergarten und denkt laut darüber nach, wie es wäre, den Ackermann zu erschießen. In echt. Nicht auf Papier. Allerdings „ohne Quälen“. August will nur, dass dieser Renditejäger endlich weg ist. Er selbst, so sagt er, könnte den Job nicht erledigen und fingert dabei an seinem Gewehr herum. Doch eine Monatsrente würde er für einen Auftragskiller schon springen lassen.
Die Zuschauer, hin und hergerissen zwischen Entsetzen und Kichern, ahnen nach diesen ersten Minuten, was der Abend mit ihnen anrichten kann. Bei Georg Schramm geht man nach dem Schlussapplaus nicht einfach erheitert nach Hause oder in die Kneipe. Man hat einen Angriff zu verdauen.
Die Vorstellung war lange im Vorhinein ausverkauft. So ist es auch in Hamburg und Hannover, in Bremen und in Bochum. Bei der letzten Vorstellung wird der Andrang noch größer sein als sonst. Die letzte? Ja. Der große Kabarettist hört zum Ende des Jahres auf. Nach 30 Bühnenjahren will er künftig keine Solotouren mehr machen.
Der Abend geht weiter, wie er begonnen hat: furios. In seinem Programm „Meister Yodas Ende“ reicht ein Garderobenständer mit Jacken, damit Schramm sich auf offener Bühne vom rührseligen August in den zackigen Oberstleutnant Sanftleben und in den verbitterten Kriegsveteranen Lothar Dombrowski verwandeln kann. Das Publikum lacht, brüllt, klatscht. Und schweigt.
Stille herrscht zum Beispiel, wenn seine Paradefigur Dombrowski feststellt: „Da hampelt man 25 Jahre lang in der Gegend rum und zappelt sich ab und versucht, dass sich irgendwas ändert. Man versucht’s offensiv, man versucht’s defensiv, laut, leise, und zwischendurch fragt man sich, was ist draus geworden von dem, was ich alles gemacht habe? Nix. Immer ist die Antwort: nix. Wenn man da nicht ins Grübeln kommt. Mir läuft die Zeit weg.“ Da ist einer am Ende. Oder sind es zwei? Wie statthaft ist es, von der Bühnenfigur auf den Künstler zu schließen?
„Das Unheil ist schneller“
Natürlich ist Georg Schramm kein Kriegsveteran mit der Hand im Lederhandschuh, die er stets eng am Körper trägt. Lothar Dombrowski mit Hornbrille und Pomade im streng gescheitelten Haar sieht aus wie weiland Herbert Wehner oder irgendein anderes übel gelauntes Relikt aus den 60er Jahren. Schramm hingegen blickt an diesem schönen Herbsttag mit randloser Brille und dunkelblondem, zerzaustem Haar charmant über den Gartenzaun.
Beim Besuch in Badenweiler, wo Georg Schramm mit seiner zweiten Frau Isa Fritz und ihrem Sohn lebt, führt er als Grund für das Ende seiner Bühnenkarriere „eine allgemeine körperliche, geistige und emotionale Schwäche“ an, „im Volksmund auch Verzweiflung genannt“. Ob er wirklich geglaubt habe, die Welt verbessern zu können? „Ja, klar. Ist das so ungewöhnlich?“ Schramm ist heiser und etwas abgekämpft, nach sieben Auftritten in Folge. Auch das spitze S, das Lothar Dombrowski im windschiefen, die Welt aufs Schärfste missbilligenden Mund formt, um es sodann wie eine Fanfare herauszustoßen, spricht Georg Schramm so nicht. Er ist leiser, zarter, abwägender. Vor allem: freundlicher. Und doch kann man es wiedererkennen, das zornige Maul dieses Wort-Arbeiters. Beim Spaziergang durch die sanfte Hügellandschaft des Markgräfler Lands verziehen sich seine Lippen, wenn sie verachten. Manchmal meint man auch den sanften August zu erkennen und manchmal den schnittigen Sanftleben. Er hat was von allen. Und alle haben was von ihm.
Auf die Frage, woher er den Mut nimmt, auf Politiker oder Intendanten („sollen sie doch Sätze rausschneiden lassen!“) persönlich einzudreschen, wenn sie bei seinen Auftritten in der ersten Reihe sitzen, kommt spontan: „Es ist der Mut der Verzweiflung.“ Da ist es wieder, dieses Wort, das im Laufe des Nachmittags noch einige Male fallen wird. Schramm lässt es in der Luft stehen. Und nach einer Weile ergänzt er: „Ich bin bedroht und bedrängt von dem Gefühl, dass es bergab geht. Ich habe das Gefühl, es passiert zwar viel im Kleinen, im Positiven, es gibt tüchtige regionale und lokale Initiativen, aber das Unheil ist schneller.“ Er spricht von Klimaflüchtlingen, Kriegen, Seuchen, Wassernot, Armut. Von den apokalyptischen Reitern.
Der Mut der Verzweiflung und das Drängen nach einer gerechten Gesellschaft, „diese Haltung kommt aus meiner Herkunft. Sie kommt nicht aus einem Vorurteil gegenüber den Reichen, sondern aus meiner Erfahrung mit ihnen“. Schramm stammt aus einem einfachen, sozialdemokratisch geprägten Haushalt in Bad Homburg, „dem Villenvorort Frankfurts mit höchster Millionärsdichte, wo auch die Herrhausens und Quandts residierten“. Jeden Tag ging er auf dem Weg zur Schule über den Zebrastreifen, auf dem später der Deutsche-Bank-Vorstand Alfred Herrhausen ermordet wurde.
Seither leiht und schenkt er
Längst gehört auch Schramm, der zunächst als Psychologe an einer neurologischen Rehaklinik am Bodensee gearbeitet hat, zu den Wohlhabenden. Ungezählte Fernsehauftritte im „Scheibenwischer“ und in „Neues aus der Anstalt“ haben ihm Kultstatus und Geld gebracht. Am Anfang, als das Geld kam, stocherte er, wie er sagt, „mit der Stange im Nebel“ und hat in den neoliberalen Glanzzeiten auch schon mal Post- und BP-Aktien gekauft. Bis ihm klar wurde, dass er mit seinem Geld Sinn stiften möchte. Es in den Händen von Leuten wissen will, die Arbeitsplätze von Dauer schaffen und die „unseren ökologischen Fußabdruck nicht noch vergrößern“. Es begann mit der Kirchensteuer, die er nach seinem Austritt nicht einsparen wollte, sondern seither in gleicher Höhe an Organisationen spendet. Er wechselte zur anthroposophischen GLS-Bank („wissen Sie, dass GLS Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken heißt?“). Und seither leiht und schenkt er. Weil er die Bedrohung, dass es bergab geht, besser aushält, wenn er mitmacht bei Initiativen, die anpacken.
Und so werkelt sein Geld mittlerweile in einem Demeterhof der Umgebung, es werkelt in der Schorfheide, wo er mit anderen GLS-Anlegern einem Großinvestor ein Stück Land vor der Nase wegkaufte, um es an Biobauern zu verpachten, die es selbst nie hätten erwerben können; es werkelt in einer kleinen Schwarzwälder Bürstenfabrik im Keller, deren Besitzer sich an ihre alten Wasserrechte erinnerten und eine verrostete Wasserturbine wieder in Betrieb nehmen wollten, doch die nötigen Investitionen in Wasserleitungen und eine Fischtreppe nicht aufbringen konnten. Es werkelt bei den Stromrebellen in Schönau, dem grünen Elektrizitätswerk, deren Gesellschafter er ist; er gab Geld in den Freiburger Solarfonds und gehört zu den Gründungsinvestoren vom BaumInvest, einer Fondsgesellschaft, die in Costa Rica Regenwald aufforstet. „Fragen Sie mich bitte nicht, was ein Kommanditist ist oder der Unterschied von Genussscheinen und Anteilsscheinen“, Schramm lacht sein heiseres Lachen. Auf alle Fälle bekommt er vom Demeterhof Gutscheine, die er, der gerne kocht, gegen Gemüse, Kartoffeln und Obst eintauscht.
Während wir uns über die Erfolgsgeschichte der Grünen im konservativen Ländle amüsieren („Kretschmann, der katholische Feuerwehrhauptmann, der liebe Gott möge ihn lange gesund halten!“), wir via Köhler, Wulff und Gauck („Hauptsache, er darf eine Rede halten“) beim wenige Kilometer entfernten AKW Fessenheim landen („diese Bruchbude belebt unsere ländliche Gegend, nach Fukushima hatten wir hier in kürzester Zeit 12.000 Leute auf der Straße!“), kommt plötzlich: „Haben Sie das gehört?“ Schramm zeigt in Richtung Wiese. „Das war das Flügelschlagen dieses Habichts.“ Wir bleiben stehen und schweigen. Der Greifvogel dreht ruhig über einer Streuobstwiese seine Kreise.
„Er hat alles gesagt“
Dann sagt er: „Schade, dass meine Mutter das nicht mehr mitgekriegt hat.“ Er meint seinen Erfolg. Denn sie, „die Sozialistin im Herzen, die gerne über Politik diskutierte“, hatte Dieter Hildebrandts Auftritte zum Pflichttermin für die Familie gemacht. „Junge, hol‘ die Salzstangen!“, und alle versammelten sich zum gemeinsamen Fernsehabend. Nur der Vater, der war in der Kneipe. Die Mutter, die ihm die Lust an der Sprache und am Kabarett vorlebte, ist seit über 20 Jahren tot, ein einziges Mal hat sie Georg noch auf der Bühne gesehen, da war sie jedoch schon so verwirrt, dass sie ihn in den unterschiedlichen Rollen nicht erkannte.
Nun erreicht der Sohn das Rentenalter. Seine beiden Töchter sind erwachsen und aus dem Haus. Im März wird er 65. Schramm findet, dass seine Erschöpfung also zum richtigen Zeitpunkt gekommen sei. Nicht nur für ihn. Auch für Lothar Dombrowski sei es gut, wenn er aufhöre: „Er hat alles gesagt. Er ist mit seiner Verzweiflung am Ende.“
Und doch werden die Figuren in Schramms Kopf noch lange weiterleben. Wenn er Zeitung liest oder Radio hört, wird August über die SPD sinnieren und Dombrowski sich über den Pflegenotstand ereifern, während ein Bericht über Kampfdrohnen den angesäuselten Oberstleutnant Sanftleben („das Weichziel ist der Mensch“) aus seinem Dämmerschlaf reißt.
Schade, dass wir diese Wortmeldungen nicht mehr hören dürfen. Wir würden gerne noch einmal klatschen, auch wenn Lothar Dombrowski uns sofort wieder anraunzen würde: „Ach, hören Sie doch auf mit dem albernen Händchenpatschen.“ Und wie immer würde Schramms berühmter Kotzbrocken an dieser Stelle sehr laut mit der Glocke bimmeln.