Wie hatten sie diesen Augenblick herbeigesehnt! Endlich ein Platz, um die Rucksäcke abzulegen, nach 54 Stunden des Kletterns in senkrechtem Eis. Endlich wieder Sonne, endlich Wärme in den Zehen, den Fingern, den ausgemergelten Gesichtern.
David Göttler und Kazuya Hiraide umarmen sich. Auf einer neuen Route sind die beiden Bergsteiger durch die Nordwand der Ama Dablam geklettert, einer 6856 Meter hohen Himalaya-Pyramide. Sie haben kaum gegessen, viel zu wenig getrunken. In den minus 20 Grad kalten Nächten haben sie sich auf schmale Bänder gekauert, die sie ins Eis hacken mussten. Und jetzt, am 6. November 2010, um 11.55 Uhr, stehen sie, vollkommen ausgelaugt, auf einem handtuchbreiten Absatz im Nordgrat des Berges. Nur noch 400 Meter sind es zum Gipfel. Keine Wolke, kein Wind. Die beiden Freunde sind glücklich – für einen kurzen Moment.
Dann aber sehen sie die überhängenden Wechten und wackligen Eistürme, die ihnen den weiteren Aufstieg am Grat versperren. Die Bergsteiger mühen sich vorwärts, sinken dabei jedoch immer wieder bis zu den Hüften im weichen Schnee ein. Selbst mit der Lawinenschaufel kommen sie nicht mehr voran. Es ist zwecklos.
Göttler versucht, auf die Ostseite des Grates auszuweichen – da gerät plötzlich der Hang in Bewegung. Schneemassen reißen den Kletterer in die Tiefe. Er überschlägt sich, sein Pickel kracht ihm ins Gesicht, dann stoppt er abrupt. Hiraide, sein Partner, hat den Sturz gerade noch mit dem Seil abfangen können, indem er auf die andere Seite des Grates gesprungen ist.
Die Freunde müssen sich eingestehen: Sie sitzen fest. Der Schneegrat ist unpassierbar, die Ostwand zu unsicher. Und über die Nordwand kommen sie nicht zurück, dazu reichen weder ihre Kräfte noch ihr Sicherungsmaterial.
Als die Dämmerung einsetzt, ziehen die beiden frustriert ihre letzte Option. Welch eine Schmach!, denken sie; aber immerhin besser, als zu erfrieren: David Göttler sucht sein Mobiltelefon aus der Daunenjacke. Er betet, dass der von der Kälte geschwächte Akku und die letzten Rupies auf seiner nepalesischen Prepaid-Karte noch reichen werden – und ruft die Expeditionsagentur in Kathmandu an. Sie soll Hilfe holen. Aus der Luft.
Eine Bergrettung im Himalaya – von einem Eisgrat auf mehr als 6000 Meter Höhe? Bis vor wenigen Jahren wäre dies völlig undenkbar gewesen. Ein Mobiltelefon war für Bergsteiger am Dach der Welt so nützlich wie ein Rettungsanker für einen Schiffbrüchigen im Pazifik. Sich zu verklettern, bedeutete fast immer den Tod.
Inzwischen jedoch hat der wachsende Zustrom von Alpinisten die Berge Asiens verändert. Selbst vom Gipfel des Mount Everest kann man im Mobilfunknetz bis nach Europa oder Amerika telefonieren. Hubschrauberpiloten fliegen quasi täglich die Basislager der bekanntesten Bergriesen an und wagen sich in immer größere Höhen hinauf.
Allerdings: Einen verunglückten Bergsteiger per Helikopter zu retten, ist schon in den niedrigeren, weitaus besser erschlossenen Alpen oder den Rocky Mountains ein akrobatisches Unterfangen. Ein winziges, aus der Wand brechendes Stück Gestein kann die Maschine zum Absturz bringen; jede Windböe muss der Pilot erspüren, zentimetergenau muss er über zerklüftete Gletscher und vernebelte Bergscharten steuern.
In den Höhen des Himalaya oder des Karakorum ist das um ein vielfaches schwieriger. Denn in der dünnen Luft haben die Rotorblätter zu wenig Widerstand, es fehlt an Auftrieb. „Die Maschinen der neuesten Generation sind zwar stark genug, um bis auf 7000 Meter Höhe zu fliegen. Aber sie verzeihen dort keine Fehler“, sagt Gerold Biner.
Niemand könnte das besser beurteilen als er. Biner, 48, mit mehr als 12000 Flugstunden einer der erfahrensten Helikopterpiloten weltweit, leitet das Hubschrauberteam „Air Zermatt“, das als Elite der Luftrettungsszene gilt.
Etwa 1500 Einsätze fliegen die Schweizer im Jahr, selbst bei übelstem Wetter und in steilstem Terrain vermögen sie Alpinisten aus Eis- und Felswänden zu befreien. So wurden sie gar aus Nepal um Hilfe gerufen, als 2009 ein slowenischer Spitzenbergsteiger am 7227 Meter hohen Langtang Lirung in Not geriet. Aber die Anreise und die bürokratischen Formalitäten dauerten viel zu lange – die Schweizer Piloten konnten nur noch die Leiche bergen.
Das war der Moment, am dem Gerold Biner, seine Kollegen von „Air Zermatt“ sowie die Spezialisten der Rettungsstation Zermatt beschlossen, Nepal beim Aufbau einer eigenen Bergwacht zu unterstützen. Nach einer ersten Testphase im Frühling 2010 im Himalaya luden die Schweizer vier Mitarbeiter des nepalesischen Hubschrauberunternehmens „Fishtail Air“ in die Walliser Alpen ein, um sie dort in der Kunst der Bergrettung fortzubilden: die beiden Piloten Sabin Basnyat und Siddhartha Gurung sowie die Flugretter Tshering Pande Bhote und Purna Awale.
Vier Wochen lang haben die vier nun im Sommer 2010 vor der Kulisse des Matterhorns das Aufnehmen von Bergsteigern im Schwebeflug eingeübt, die Spaltenbergung, die Arbeit mit einer Seilwinde. Im Frühling 2011 sollen sie in Nepal die letzte Phase des Trainings bestreiten.
Es ist 20.30 Uhr am 6. November 2010, als beim 34-jährigen Purna Awale in Kathmandu das Telefon läutet. Am Apparat ist der Einsatzleiter von „Fishtail Air“. Ob Awale am nächsten Morgen zur Ama Dablam fliegen wolle, fragt er. Dort säßen zwei Bergsteiger fest. Pilot sei Sabin Basnyat.
Awale zögert keine Sekunde. Der gleichalte Basnyat ist sein bester Freund, im kleinen Kreis der rund 40 nepalesischen Hubschrauberpiloten gelten sie als unzertrennliche „Two-Men-Show“. Beide fliegen seit Jahren zusammen: der ruhige Awale, eher bedächtig und abwägend. Und der mutige Basnyat, der gern an die Grenze des Möglichen geht. Erst im April 2010 war er an einer Rettungsaktion beteiligt, bei der Piloten der „Air Zermatt“ drei Bergsteiger an der Annapurna aus 7000 Meter Höhe bargen.
Diesmal hingegen wären die Nepalesen auf sich allein gestellt. Sie könnten endlich beweisen, was sie beim Training im Wallis gelernt haben. Noch am Abend packt Purna Awale seine Sachen.
Am Nordgrat der Ama Dablam quälen sich Göttler und Hiraide durch eine stürmische Nacht. Sie haben ein provisorisches Biwak errichtet; aber sie können nicht schlafen: Hunger, Kälte und Durst plagen sie. Hiraides rechte Daumenkuppe ist schwarz gefroren. Ihre Augen sind rot unterlaufen, die Lippen gesprungen. Wenn sie sich anblicken, sehen sie die Angst in den Augen des anderen.
Erst am Morgen des 7. November 2010 legt sich endlich der Wind. Um 7.30 Uhr ruft Göttler noch mal in Kathmandu an. Die Agentur bestätigt ihm, dass ein Hubschrauber kommen werde. Göttler antwortet, die Piloten sollten den Grat auf keinen Fall schwebend anfliegen. Zu groß die Gefahr, dass der Rotor einen der vielen Eistürme touchiert. Er rät dringend zur Bergung mit einer „Longline“ – einem 50 bis 100 Meter langen Statikseil, an dem sich ein Flugretter frei hängend an der Unfallstelle absetzen lässt. Ein Verunglückter kann dann ins Seil eingeklinkt und bis zum nächsten Landeplatz ausgeflogen werden. Diese Technik erlaubt es, Bergsteiger auch an Orten zu bergen, an denen kein Hubschrauber landen kann. In den Alpen ist sie längst Routine.
Was Göttler und Hiraide nicht wissen: Die beiden nepalesischen Retter sind bislang nur mit „dead weight“ als Unterlast geflogen, nicht aber mit einem Flugretter an der Longline. Zudem hat ihr Hubschrauber keinen Bordfunk. Awale hinge wie ein menschliches Pendel am Seil, ohne mit seinem Piloten sprechen zu können. Niemand könnte das verantworten.
Um 8.05 Uhr startet Basnyat das Triebwerk seiner „Ecureuil AS 350 B3+“. 843 PS, 287 km/h, zehn Meter Steigung pro Sekunde, lizensiert und versichert bis 7000 Meter Höhe. Der Pilot hat sich schweren Herzens von seiner Familie verabschiedet. In Kathmandu wird heute „Bhai Tika“, der fünfte und letzte Tag des Tihar-Festes, gefeiert. Mit dem „Fest des Lichts“ ehren Hindus Lakshmi, die Göttin des Glücks und der Schönheit. An Bhai Tika schmücken Frauen die Stirn ihrer Brüder mit dem „Tika“, einem Segensmal, um ihnen ein langes Leben zu wünschen. Er werde rechtzeitig wieder zu Hause sein, hat Basnyat seiner Frau versprochen.
Nach 40-minütigem Flug über die terrassierten Hügel der Himalaya-Ausläufer landen Awale und Basnyat in Lukla. Halb so groß wie ein Handballfeld ist der Landeplatz, steinig, erst zwei Jahre zuvor von den Minen geräumt, die maoistische Rebellen vergraben hatten. Als die Ecureuil, das „Eichhörnchen“, anfliegt, knattern die Wellblechdächer von Lukla im Abwind der Rotoren. Irgendwann soll hier eine richtige Hubschrauberbasis entstehen. Noch aber gibt es für die 13 Helikopter, die in Nepal zugelassen sind, keinen einzigen Hangar.
Während Basnyat die Turbine laufen lässt, laden Helfer 50 Kanister mit Kerosin aus – Nachschub für das Treibstofflager am Eingang des Khumbu-Tals. Bevor Basnyat und Awale wieder abheben, stecken die beiden sich dünne Plastikschläuche in die Nasen: Ohne Flaschensauerstoff könnten sie in der Höhe das Bewusstsein verlieren. Dann heben sie ab; nur 15 Minuten später sehen sie die gleichmäßige Pyramide der Ama Dablam am Tal-Ende auftauchen.
Nachdem Hiraide und Göttler dort am Nordgrat ihr Zelt abgebaut haben, spielen sie „Schere, Stein, Papier“. Das kennt man in Deutschland und Japan. Göttler gewinnt zwei zu eins, er darf als Erster ausfliegen. Hiraide wird mit Zelt, Kocher, etwas Essen, zwei Seilen und dem Erste-Hilfe-Set zurückbleiben. Als die beiden Freunde das leise Knattern eines Hubschraubers hören, drückt Göttler dem Japaner noch schnell das Feuerzeug für den Benzinkocher in die Hand.
Weit unter sich macht Göttler einen kleinen, sich nähernden Punkt aus. Der drehende Rotor glitzert im Sonnenlicht wie eine Discokugel. Dann sieht Göttler die zwei Silhouetten im Cockpit. Er streckt seinen linken Arm aus, in der Hand hält er einen geöffneten Karabiner. Seht her, will er signalisieren, ich bin bereit zum Einklinken! Doch am Hubschrauber hängt keine Longline, kein Flugretter. Stattdessen schwebt die B3 immer näher heran. Bis Purna Awale die Tür öffnet, sich auf die linke Kufe stellt, den Arm um seinen Sitz geschwungen. Es dauert einen Moment, bis Göttler begreift, dass er jetzt einsteigen muss. Dann packt Awale ihn an der Schulter, zieht ihn ins Cockpit hinein. Der deutsche Bergsteiger ist in Sicherheit.
Mein Gott, was für lässige Typen, denkt er. Basnyat und Awale lächeln ihn an. Der Pilot hält den rechten Daumen nach oben. Um 9.05 Uhr lädt er seinen Passagier in dem kleinen Dorf Chhukhung am Fuß der Ama Dablam aus. Als Göttler aussteigt, klatschen sich die Männer ab. High five! Du hast es geschafft! Dann hebt der Helikopter ab und fliegt zum Nordgrat zurück.
Um sich dort wieder orientieren zu können, benötigt Basynat einen Fixpunkt: eine Wechte am Grat, ein Riss im Eis, einen Schneehöcker. Doch diesmal ist er etwas über den Grat hinausgeflogen, so kann Hiraide nicht einsteigen. Basnyat blickt rechts aus dem Fenster. Er versucht, die Bergkante wieder zu finden. Mit dem „Cyclic“, dem Steuerknüppel, bewegt er den Helikopter etwas nach links, dann etwas zurück. Mit dem „Collective“ in der Linken lässt er ihn sinken. Ein paar Zentimeter nur. Aber links von ihm, im toten Winkel, hängt eine Wechte.
Zwischen Eis und Hubschrauber steht Hiraide, bereit zum Abflug. Doch irgendetwas lässt den Japaner zögern. Er spürt, wie der Hubschrauber auf ihn zu schwebt. Schon ist die linke Kufe greifbar nahe über seinem Kopf, nur noch 30 Zentimeter entfernt, während die rechte Kufe über dem Abgrund schwebt. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Schnee stiebt auf. Plötzlich ein lauter Schlag, der Helikopter kippt weg, Kerosinfahnen, aus der Ferne ein Hall, wie von einer Lawine. Dann herrscht Stille.
Als Hiraide sich über die Nordostwand beugt, sieht er tausend Meter tiefer dunklen Rauch aufsteigen. In Chhukhung hat Göttler das Geschehen auf dem Display seiner Videokamera verfolgt. Es dauert einige Minuten, bis er begreift, dass der Hubschrauber mit dem Rotor ans Eis gestoßen und abgestürzt ist. Dass zwei Menschen zu Tode gekommen sind. Oder drei? Saß Hiraide bereits im Hubschrauber? Und was ist, wenn nicht?
7. November 2011, 10.55 Uhr: Der „Fishtail Air“-Pilot Siddhartha Gurung bereitet sich gerade auf einen Transportflug vor, als er erfährt, dass seine Kollegen Basnyat und Awale vermisst werden. Besorgt fliegt er mit seinem Kopiloten am Mittag zum Ama-Dablam-Gletscher: Auf 5200 Meter Höhe entdecken die beiden das Helikopterwrack – und die Leichen der Freunde. Gurung setzt ein Team nepalesischer Bergsteiger ab, das die Verstorbenen bereit machen sollen für den Abtransport. Erst am nächsten Tag wird er sie abholen und die Toten zu ihren Familien zurückbringen können.
Währenddessen hat David Göttler in Chhukhung einen Anruf aus Japan erhalten – von einer Freundin Hiraides. Dieser sei immer noch oben am Grat; mit dem Mobiltelefon habe er einen weiteren Notruf absetzen können. Wie aber soll er jetzt herunterkommen?
Das pakistanische Militär lehnt einen Bergungsversuch als zu riskant ab. Göttlers einzige Hoffnung: dass ein anderer „Fishtail Air“-Pilot noch einmal zum Berg hinauf fliegt. Noch einmal die unberechenbare Gefahr auf sich nimmt, in der Basnyat und Awale gerade um Lebens gekommen sind.
Als Siddharta Gurung am Nachmittag wieder in Lukla landet, ist er aufgewühlt, traurig. Und wütend. Wütend auf die Bergsteiger, auf seine Firma, selbst auf seine Freunde Basnyat und Awale. Warum sind sie dieses Risiko eingegangen? Zusammen haben sie in Zermatt trainiert. Gurung hat Basnyat immer für dessen Mut bewundert – und jetzt ist er tot.
Erst am Abend erfährt Gurung von „Fishtail Air“, dass noch ein zweiter Bergsteiger am Nordgrat der Ama Dablam festsitzt – und dass er, Gurung, der Einzige ist, der ihn retten könnte. Er zögert. Weshalb sollte er jemandem helfen, der die Schuld am Tod seines Freundes trägt?
Am folgenden Morgen, 8. November 2010, fliegt Gurung zur Ama Dablam zurück. Sechs Mal kreist er um die Absturzstelle am Grat. Dann entscheidet er sich. Er signalisiert Hiraide, etwa 50 Meter abzusteigen. Dort könnte der Anflug sicherer sein. Zwei Mal noch zirkelt Gurung über den Bergsteiger hinweg. Dann setzt er die linke Kufe auf und wartet, bis der Japaner eingestiegen ist. Er bringt ihn nach Lukla, lässt ihn wortlos dort aussteigen. Dieses Mal gibt es kein Abklatschen, kein „High five“. Nicht einmal ein Lächeln.
Ein halbes Jahr nach dem Unglück, im Mai 2011, beugt sich Gerold Biner in Lukla über die Schnauze eines B3-Helikopters. Vorsichtig streicht er über eine runde, zentimetertiefe Delle im abgesplitterten Lack. Gerade ist er von einer Rettungsübung im oberen Khumbu-Tal zurückgekehrt – wo er mit einem Vogel zusammengestoßen ist. Ein Mechaniker versucht, den Schaden mit Gummihammer, Taschenmesser und Klebeband zu reparieren. „Improvisation am Hightech-Gerät“, schmunzelt Biner. Er trägt Bergschuhe, Gore-Tex-Hose, ein schwarzes Stirnband mit weißen Sternen. Auf seiner blauen Daunenjacke prangt ein stilisiertes Matterhorn, das Logo der Air Zermatt. Es sieht der Ama Dablam zum Verwechseln ähnlich.
„Der Absturz“, sagt Biner, „war wie ein Genickschlag für uns.“ Sein Projekt will er trotzdem fortsetzen. „Irgendwie muss es ja weitergehen.“ Aus seinem Seufzer spricht ein Konflikt, mit dem sich Bergretter täglich auseinandersetzen müssen: Während sie Leben retten, werden sie immer wieder mit dem Tod konfrontiert; mit dem von Bergsteigern, Kollegen und Freunden, und mit der Möglichkeit des eigenen Todes. Dennoch rücken sie aus, so oft es nötig ist. Würden sie am Sinn ihrer Aufgabe zweifeln, könnten sie sie nicht mehr erfüllen.
Und der Bedarf ist groß. Zwei Monate lang sind die Piloten der „Air Zermatt“ und die Bergretter aus der Schweiz in der Saison 2011 im Himalaya stationiert, um ihren nepalesischen Kollegen beim Training zu helfen. Fast täglich fliegen sie Einsätze: Ein russischer Rucksackwanderer hat Kopfweh, eine Engländerin hat sich den Knöchel verstaucht, eine Gruppe aus der Ukraine wurde vom Schnee überrascht, ein koreanischer Bergsteiger ist völlig erschöpft – alles Routineflüge.
Trägt die Anwesenheit des Rettungsteams dazu bei, dass die Bergsteiger im Himalaya leichtsinniger werden – weil sie darauf vertrauen, dass im Zweifel ein Hubschrauber kommt? Geht so das Abenteuer des Alpinismus verloren, die Magie des Unmöglichen? Und verführt man die Alpinisten nicht gar dazu, unnötig andere, nämlich Flugretter und Piloten, in Lebensgefahr zu bringen?
Biner hält diese Gedanken für zynisch. „Man sollte eher diejenigen Expeditionsleiter zur Verantwortung rufen, die keinen Helikopter anfordern. Allein in den ersten zwei Mai-Wochen dieser Saison sind drei Menschen gestorben, die wir hätten retten können.“ Und außerdem: „Ab 6000 Meter Höhe fliegen wir im absoluten Grenzbereich. Ein Kilo zu viel oder ein einziger, unachtsamer Moment können hier schon das Aus bedeuten.“ Sobald das Gelände zu steil, das Wetter zu schlecht, der Wind zu stark ist, sei an eine Bergung gar nicht zu denken. „Nach wie vor muss jeder so unterwegs sein, als gäbe es keinen Hubschrauber in der Nähe.“
Das Problem sei vielmehr, sagt Biner, „dass wir im Ernstfall noch oft zu spät kommen, denn zwischen Alarm und Abheben vergeht meist zu viel Zeit“. In Nepal startet kein Hubschrauber, bevor geklärt ist, wer für die Kosten der Bergung aufkommt. Diese sind hoch, schon eine Evakuierung aus dem Everest-Basislager kostet rund 10000 US-Dollar. Doch wenn sich vor einem Einsatz Angehörige, Versicherungen, Reiseagenturen und Botschaften erst stunden- oder gar tagelang über die Rechnung einigen müssen, können die Retter meist nur noch Leichen bergen.
Um dies zu ändern, hat Biner mit sechs befreundeten Wallisern die „Alpine Rescue Foundation“ gegründet. Die Stiftung soll helfen, in Ländern wie Nepal eine verlässliche, schnelle Bergrettung zu finanzieren. Und sie soll dazu beitragen, dass die Helikopter nicht bloß betuchten, ausländischen Alpinisten zu Gute kommen, sondern auch der Bevölkerung in den Tälern. So könnte etwa jeder Bergsteiger dazu verpflichtet werden, eine Rettungspauschale in einen Fond zu zahlen, aus dem auch die Notfallversorgung nepalesischer Ortschaften mit bestritten wird.
Denn viele Himalaya-Dörfer sind bislang nur in mehreren Tagen zu Fuß zu erreichen; Straßen gibt es nicht. Mit dem Hubschrauber aber könnten Medikamente und Ärzte in kurzer Zeit zu den Siedlungen transportiert werden. Und auch Flüge mit der Longline könnten Einheimischen helfen: nach Erdbeben, Felsstürzen oder Lawinenabgängen.
Für all dies jedoch seien perfekt harmonierende Rettungsteams nötig, sagt Biner. Und so setzt er mit seinen verbleibenden Schützlingen, dem Piloten Siddhartha Gurung und dem Flugretter Tshering Pande Bhote, das Training in Nepal fort.
Die beiden sind ein ungleiches Paar: Gurung, 36, stammt aus einer gut situierten Familie, machte seinen Pilotenschein in Florida, „weil ich das schon immer machen wollte“. Bhote dagegen riss früh von Zuhause aus. Er schlug sich als Holzarbeiter und Yaktreiber durch, bevor er sich auf Expeditionen vom Küchenjungen zum „Climbing Sherpa“ am Everest hocharbeitete: Die Ausbildung in der Flugrettung ist für ihn eine einzigartige Chance auf ein festes Einkommen.
Immer wieder trainieren Gurung und er nun die „Longline“-Rettung, das blinde Vertrauen zwischen Flugretter und Pilot, den Austausch von Funkkommandos, das richtige Maß zwischen schnellem und sicherem Handeln.
Sie schweben knapp über die mit Schutt bedeckten Moränen des Khumbu-Gletschers, bergen einen höhenkranken Alpinisten, holen eine Frau aus einer Gletscherspalte am Kala Patthar in rund 5500 Meter Höhe. Und auch wenn das Opfer dort nur eine freiwillige Testperson ist: Nach vier Wochen Training verstehen sich Gurung und Bhote, ohne viele Worte machen zu müssen.
Aus dem Schicksal ihrer Freunde haben sie eine klare Maxime abgeleitet: „Wir fliegen nur, wenn jemand wirklich in Gefahr ist“, sagt Gurung. „Wenn es geht, dann mache ich es. Aber ich werde nicht Tsherings oder mein eigenes Leben aufs Spiel setzen.“
Am 13. Mai 2011 gelingt Siddhartha Gurung und Tshering Pande Bhote auf etwa 6000 Meter die erste Longline-Bergung, die ein nepalesisches Team ausführt. Gerold Biner ist glücklich: „Wir können nach Hause fliegen. Der Chef über dem Himalaya ist nun Siddhartha.“
Auch der Bergsteiger David Göttler ist im Mai 2011 nochmals nach Nepal gereist. Ihn plagt der Gedanke, mit seinem alpinistischen Ehrgeiz zwei Unschuldige in den Tod getrieben zu haben. „Ihre leuchtenden, stolzen und glücklichen Augen, die mich ansahen, als sie mich abholten, werde ich nie vergessen“, hatte er nach dem Unfall in sein Internet-Tagebuch geschrieben. „Unendlicher Dank für alles, was sie getan haben. Auch wenn ich weiß, dass sie durch Nichts wieder ins Leben gerufen werden können“. Nun ist Göttler zurück im Himalaya, um einen schwierigen Gang anzutreten.
Sabina Awale, die Witwe des Flugretters, empfängt ihn im Dachgeschoss eines taubenblau gestrichenen Neubaus in einem Außenbezirk von Kathmandu. Schüchtern serviert sie dem Gast Tee und Gebäck. Da sie kaum Englisch spricht, übersetzt Rikesh, der ältere der beiden Söhne, das Gespräch, in dem es um den verstorbenen Ehemann geht, den Vater, der die Familie versorgt hat. Nepalesische Zeitungen haben geschrieben, er und Basnyat seien als Helden gestorben. Doch was nutzt das?
Sabina Awale sucht dringend Arbeit. Sie muss die Schulden für das Haus abtragen, das ihr Mann gebaut hat. Und die Schule finanzieren, die pro Jahr und Kind etwa 1200 Euro kostet.
Zumindest dabei, sagt Göttler, wolle er ihr behilflich sein. In einem Briefumschlag überreicht er der Mutter das Schulgeld für ein Jahr. Dann fragt er den 14-jährigen Rikesh, ob dieser schon wisse, was er einmal werden wolle. „Pilot“, sagt der Junge. Und er lächelt, zum ersten Mal.