Foto: rychard

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Frankreich

Liebe auf Distanz

Die frühe staatliche Betreuung in Frankreich hat ihren Preis. Frauen fühlen sich zunehmend entfremdet von ihren Kindern.

Von Margarete Moulin

Es ist vier Uhr morgens, die fünf Monate alte Mila ruft aus ihrem Bettchen. Ihre Mutter, Maryline Jury, steht rasch auf, damit der zweijährige Bruder nicht aufwacht. Sie holt das Baby und legt es an die Brust. Sie ist todmüde, aber sie ist froh über diesen stillen Moment der Zweisamkeit. Den einzigen, den sie an diesem Tag mit ihrem Baby haben wird.

Bis 6.30 Uhr döst sie, dann ist jede Minute getaktet. „Schnell, iss dein Brot! Komm, trink deinen Tee!“, treibt sie ihren Sohn beim Frühstück an. Beim Anziehen möchte der selbst die Klettverschlüsse schließen. Dafür bleibt jetzt keine Zeit, Maryline Jury macht es schnell selber. Dann legt sie die greinende Mila in den Kinderwagen, wirft sich die beiden Kinderrucksäcke, ihre Laptoptasche plus den Rucksack mit der Milchpumpe über die Schulter, zieht Paul aus der Wohnung. 8.20 Uhr: erste Station beim Kindergarten. Sie hat nur fünf Minuten Zeit, Paul will ihr ein Bild zeigen, das er gemalt hat. „Heute Abend!“, verspricht sie. Die Erzieherin ruft hinter ihr her. Sie suche Freiwillige, um einen Ausflug zu begleiten. Jury sagt zu und weiß, dass sie dafür einen ganzen Urlaubstag opfern wird. Sie eilt zur Krippe, in die sie Mila seit deren zehnter Lebenswoche bringt. Eigentlich wäre die Architektin gerne länger zu Hause geblieben, ein Jahr vielleicht. Doch dann wäre der Krippenplatz weg gewesen. Auch in Frankreich mangelt es dramatisch an Betreuungsplätzen, fast 300.000 will die Regierung unter François Hollande in den nächsten vier Jahren schaffen.

Vor allem aber war da der regard des autres, der strenge Blick der anderen. Er war auch der Grund, weshalb die Architektin aus Lyon seit der Geburt ihres Sohnes immer berufstätig war, teilweise sogar Vollzeit. Damit entspricht sie ganz dem Bild der modernen, emanzipierten Französin, das in Deutschland nicht selten bewundert wird. In Frankreich aber lässt sich der Beginn einer Gegenbewegung erkennen. Immer mehr Frauen sträuben sich gegen den gesellschaftlichen Konsens, nach dem das Ansehen einer Frau steigt, wenn sie kurz nach der Geburt ihres Kindes wieder beruflich einsteigt, es aber rapide sinkt, wenn eine Mutter entscheidet, mit ihrem Kind zu Hause zu bleiben – und sei es nur für ein oder zwei Jahre. Viele berufstätige Mütter fordern nun, dass neben der Arbeit mehr Zeit für die Familie und die Nähe zu ihren Kindern bleiben muss.

In der Mittagspause geht Maryline Jury nicht mit ihren Kollegen essen. Vor dem Rechner kramt sie ein Sandwich hervor. Danach zieht sie sich mit ihrer Milchpumpe zurück. Nach französischem Recht hat sie für das Abpumpen pro Arbeitstag eine Stunde zur Verfügung. Gesetzlich stünde ihr ein angemessener Rückzugsort zu, aber den gibt es hier nicht. Jury sitzt in dem fensterlosen, heruntergekühlten Raum, in dem die Server des Büros brummen. Um den Milchfluss in Gang zu bringen, schaut sie sich Fotos von ihrem Baby an. Sie weiß, dass manche Mütter zum Abpumpen in der Toilette auf dem Klodeckel hocken. Oft fragen Kollegen, wie lange sie eigentlich noch stillen wolle.

Viele Franzosen haben ein distanziertes Verhältnis zum Stillen. Etliche Frauen finden es „animalisch“. Die meisten Mütter, die ihren Kindern die Brust geben und nach drei Monaten die Arbeit wieder aufnehmen, stillen vorher ab. Europäischen Statistiken zufolge bekommen weniger als zehn Prozent der Kinder, die ein halbes Jahr alt sind, in Frankreich noch die Brust. In Deutschland sind es über 40 Prozent.

Am Nachmittag ruft die Krippe an, Mila hat 38 Grad Fieber. Als Maryline Jury um 17.30 Uhr in der Krippe ankommt, blickt die Erzieherin sie vorwurfsvoll an. Zu Hause geht es Schlag auf Schlag: Fiebersaft für Mila, stillen, kochen, essen, Kinder waschen und in den Pyjama stecken, Paul eine Geschichte vorlesen. Als die Kinder schlafen: Wäsche zusammenlegen, Waschmaschine und Spülmaschine bestücken. Ihr Mann kommt von einer Dienstreise nach Hause. „Ça va, chérie?“, fragt er. Sie lächelt und jammert nicht, gegen 23 Uhr sinkt sie ins Bett.

Insgesamt drei Jahre lang hat Maryline Jury das französische Ideal der berufstätigen Mutter komplett erfüllt, in der Zeit, in der ihre Kinder am kleinsten waren. „Aber ich habe mich gar nicht erfüllt gefühlt, sondern entsetzlich ausgehöhlt. Immer müde, immer gehetzt, immer schuldig.“ Im Juli hat Jury gekündigt und ist nun zu Hause bei ihren Kindern. „Ich brauche eine Auszeit, um zu sehen, wie es weitergeht.“

Die Croix-Rousse ist ein altes Weberviertel in Lyon, beliebt bei jungen Familien. Hier hat der seit 24 Jahren in Frankreich lebende Deutsche Adrian Serban seine Kinderarztpraxis. Er ist außerdem Psychotherapeut für Erwachsene und bekommt viel mit vom Alltag französischer Familien. „Viele Frauen schlingern am Rand der Erschöpfung entlang“, sagt Serban. Gerne würde er ihnen eine Mutter-Kind-Kur ans Herz legen. In Frankreich gibt es jedoch keine Mutter-Kind-Kliniken. Und die Diagnose des „Mütterlichen Erschöpfungssyndroms“ kennt man hier auch nicht. Mehrmals im Jahr besucht der Arzt sein Heimatland, in Lyon liest er deutsche Medien. „Wie man in Deutschland auf den Spuren der französischen Familienpolitik wandelt, bereitet mir Unbehagen, und ich staune darüber, dass immer nur die positiven Seiten dieser Politik in den Medien auftauchen.“ Seit Jahren wird das angeblich frauengerechte Ideal aus Kinderbetreuung und Berufstätigkeit, das in Frankreich herrscht, als Vorbild präsentiert. Schließlich liegt die Geburtenrate dort bei 2,1 Kindern pro Frau und in Deutschland nur bei knapp 1,4.

Aber der persönliche Preis, den Eltern und Kinder für diese Familienpolitik bezahlten, sei hoch, sagt Serban. „Auf diese Weise entsteht eine Gesellschaft, in der Erwachsene ungestört ihrer Arbeit und sogar ihren Hobbys nachgehen können, aber keine wirkliche Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Denn eine Beziehung braucht Zeit und auch Raum. Und genau das fehlt in Frankreich.“

In der Grande Nation gibt es eine lange Ammentradition. Vom 17. Jahrhundert an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es bei den wohlhabenden Familien üblich, die Neugeborenen kurz nach der Geburt aufs Land zu einer Amme zu geben. Der Hauptgrund: Die Mutter sollte rasch wieder schwanger werden, das empfängnisverzögernde Stillen störte da. Die Eltern besuchten ihre Kinder kaum und holten sie erst nach zwei, drei Jahren wieder zu sich. „Die frühe Fremdbetreuung ist über mehrere Generationen so selbstverständlich geworden, dass sie auch heute niemand infrage stellt“, sagt Serban. „Selbst Kinderpsychologen und Kinderpsychiater haben sich bis vor Kurzem kaum Gedanken über die psychischen Folgen gemacht.“ Und auf die Frage, weshalb französische Mütter oft drei oder vier Kinder bekommen, sagt der Kinderarzt: „Sie bekommen so viele Kinder, gerade weil sie sich nicht um sie kümmern müssen!“

Familien mit drei und mehr Kindern zahlen in Frankreich fast keine Steuern mehr. Zu den Betreuungskosten in Krippen, Kindergärten oder bei der Tagesmutter schießt der Staat kräftig zu. Dagegen wird ein Kindergeld erst ab dem zweiten Kind gezahlt. Und Anreize für Männer, einige „Papa-Monate“ in ihre Karriere einzuschieben, gibt es keine. Überhaupt übernehmen die französischen Väter nur in den wenigsten Fällen wirklich Verantwortung für die Betreuung ihrer Kinder. Sie verlassen sich darauf, dass ihnen diese Aufgabe von den Institutionen abgenommen wird, den Rest überlassen sie meist ihren Frauen.

Die französische Frau als Heldin, die Beziehung, Kinder und Beruf problemlos unter einen Hut bekommt. Die Frau als „Superwoman“. Dieser Mythos entstand im Windschatten der Frauenbewegung in den 1980er Jahren. Fast alle der heute 20- bis 40-jährigen Französinnen sind früher selbst in einer Fremdbetreuung untergebracht gewesen und folgen jetzt demselben Prinzip. Über 60 Prozent der Mütter, die Kinder unter sechs Jahren haben, arbeiten Vollzeit. In Deutschland sind es nur gute zwölf Prozent. „Ich und alle meine Freundinnen sind Töchter solcher Supermütter“, sagt Maryline Jury. „Um die Fassade zu wahren, haben wir es so gemacht wie sie. Denn sonst sähe es so aus, als wären wir weniger befreit!“

Ein Vollzeitjob für beide Eltern bedeutet jedoch zwangsläufig, dass die Kinder oft neun Stunden oder mehr weggegeben werden müssen. Vor allem in den französischen Städten ist es üblich, dass abends eine assistante maternelle die Kinder von der Betreuung abholt, weil papa et maman noch keine Zeit haben.

Das hat Folgen: In einer aktuellen Unicef-Studie zum Wohlergehen von Kindern in 30 verschiedenen Ländern wurden Kinder und Jugendliche gefragt, wie sie selbst ihre Beziehung zu Eltern und Gleichaltrigen einschätzten. In dieser Untersuchung landete Frankreich auf dem letzten Platz.

Die Auswirkungen seien auch in der Uni-Klinik zu sehen, sagt Adrian Serban. Dort behandelt er Erwachsene mit Depressionen und Angstzuständen. Er hält es für keinen Zufall, dass die Franzosen seit Jahren an der Weltspitze stehen beim Verbrauch von Antidepressiva. Eine Tatsache, die auch mit anderen Ursachen zusammenhängt. So kostet eine Monatspackung Beruhigungstabletten weniger als fünf Euro. Doch der Mediziner sieht immer wieder Symptome, die auf ein bestimmtes Problem hindeuten: „Die Menschen, die ich wegen Ängsten und Depressionen behandle, erzählen mir, wie wenig echte Nähe sie in ihrer Kindheit von ihren Eltern bekommen haben. Parallel dazu beobachte ich in der Kinderarztpraxis, wie wenig Bezug manche Eltern zu ihren Kindern haben.“ Da werde der Zusammenhang zwischen früher Bindungs- und späterer Verhaltensstörung besonders deutlich.

Während die Bindungsforschung in Deutschland bereits seit den achtziger Jahren eine Rolle spielt, sickern die Zusammenhänge zwischen Bindung und seelischer Gesundheit in Frankreich erst langsam in das Bewusstsein der Experten. „In Frankreich werden keine Längsschnitt-Bindungsstudien gemacht, die untersuchen, wie sich die früh einsetzende Fremdbetreuung auf die Entwicklung von Kindern auswirkt“, sagt Serban. Die Fondation pour l’Enfance, das Pendant des Deutschen Kinderschutzbunds, bestätigt diesen Mangel. Nach wie vor wird jungen Eltern in Frankreich vermittelt, dass eine frühe Trennung aus Kindern später selbstständige Erwachsene mache und dass der zeitige Eintritt in die sogenannte collectivité, also in Krippe und Kindergarten, wichtig sei für ihre Entwicklung zu sozialen Wesen.

Die französische Sprache kennt das Konzept der Rabenmutter nicht, aber sehr wohl das der Übermutter. Ein Konzept, das aus der Psychoanalyse stammt, die die französische Gesellschaft ungleich stärker geprägt hat als die deutsche. „Hier gehört eine Frau in erster Linie an die Seite ihres Mannes, nicht an die ihres Kindes“, erklärt Serban. „Dass Kinder nachts ins Elternbett schlüpfen, ist in Frankreich ein Tabu und wird als pädagogische Niederlage gesehen, sogar als tendenziell inzestuös.“

In der Nähe seiner Praxis arbeitet ein Pädopsychiater, der zu einem kurzen Gespräch bereit ist, aber anonym bleiben möchte. Er bestätigt, dass Schlafstörungen in Frankreich der Hauptgrund seien, warum Eltern mit ihren Kindern zum Psychiater oder Psychoanalytiker gingen. „Manche bringen ihre sechs Monate alten Babys.“ Aber auch er hält es für nicht gut, wenn eine Mutter ihr Kind ins Bett holt, damit es schläft. Wie die meisten seiner Kollegen rät er dann doch eher zur Methode des nächtlichen Schreienlassens. Und dann kommt der Satz: „Bei älteren Kindern kann auch eine fessée etwas Strukturierendes haben.“ Eine fessée, das bedeutet „Hinternvoll“, „Popo-Haue“.

„Über 80 Prozent der französischen Eltern benutzen die Ohrfeige oder Schläge auf den Hintern regelmäßig, um ihre Kinder zur Räson zu bringen“, bestätigt die Allgemeinärztin Marie Levasseur, die diese Zahlen für ihre Promotion recherchiert hat. Ein immer wiederkehrendes Thema in ihrer Praxis seien die Spannungen am Abend, wenn die müden Eltern auf müde Kinder stießen. „In dieser Zeit gehen vielen Eltern die Nerven durch.“

Erst im Juni dieses Jahres lancierte die Fondation pour l’Enfance mit Sitz in Paris eine landesweite Kampagne gegen „la petite claque“, die „kleine Ohrfeige“. In einem Spot, der im Fernsehen und im Internet gezeigt wurde, schlägt eine Mutter ihren Sohn ins Gesicht, weil er mit seinem Spielzeugauto lärmt, während sie telefoniert. Vincent Dennery, Leiter der Fondation, berichtet: „Danach hagelte es bei uns beleidigende Anrufe und E-Mails von aufgebrachten Eltern. Weil wir uns in ihre Erziehungsfreiheit eingemischt hätten!“ Frankreich hat vor 20 Jahren die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Aber es gibt immer noch kein Gesetz, das Eltern das Schlagen ihrer Kinder verbietet. „Wir haben hier eine Familienpolitik der Quantität, nicht der Qualität“, kommentiert Dennery die hohe Geburtenrate Frankreichs.

Nach dem Pisa-Schock 2001 blickte Deutschland mit neidvollem Respekt auch auf die Frühförderung in Frankreichs Kindergärten. Dort beginnen Kinder mit drei Jahren, vorgedruckte Bilder liniengenau auszumalen und Buchstaben mit einem Stift nachzufahren. Vom ersten Jahr in der école maternelle an, die nach deutschem Verständnis einer Vorschule gleicht, erhalten Kinder Bewertungen oder sogar Noten von Eins bis Fünf. Langes Stillsitzen wird systematisch eingeübt. Freies Spiel oder gar Eigensinn stehen nicht im pädagogischen Konzept. Es könne durchaus vorkommen, dass unsauber gemalte Bilder vor den Augen der Kinder demonstrativ zerrissen werden, weiß die Ärztin Marie Levasseur.

Zu ihrem Kollegen Adrian Serban kommt auch der kleine Achille, vier Jahre alt. Der ursprünglich völlig normal entwickelte Junge droht an diesem autoritären System zu zerbrechen. Er hat schwere Schlafstörungen entwickelt, stottert inzwischen massiv. „Als wir der Erzieherin sagten, dass wir unseren Sohn mehr zu Hause lassen wollen“, erzählt Achilles Vater, „war diese dagegen. Sie sagte: Im Kindergarten geht es nicht um die Entfaltung der Persönlichkeit eines Kindes, sondern darum, ihm beizubringen, ein Schüler zu werden.“ Achille selbst hat nur einen Wunsch: zu Hause zu bleiben, jeden Tag.

„Wir in Frankreich bemuttern unsere Kinder nicht genügend. Man gibt uns nicht das Recht, sie zu bemuttern“, sagt die in Straßburg lebende Erzieherin Belinda Peregi. Sie arbeitet im französischen Kindergarten im deutschen Baden-Baden. Zuvor war sie mehrere Jahre in französischen Krippen angestellt. „Dort ist uns manchmal ein Kind gebracht worden, das drei bis vier Stunden später plötzlich 39 Grad Fieber hatte. Wenn wir dann die Eltern angerufen haben, erfuhren wir, dass sie es einfach mit einer Dosis Paracetamol zu uns geschickt hatten – weil sie arbeiten gehen mussten!“

Es ist kein Geheimnis, dass Babys und Kinder in Frankreich selbst bei reinen Virusinfekten oft ein Antibiotikum erhalten, in der Hoffnung, sie würden damit schnell wieder fit für die Krippe oder den Kindergarten. Und wenn sie nicht, wie von ihnen vom dritten Monat an erwartet, durchschlafen, wird offenbar auch gerne in den Medikamentenschrank gegriffen. „Da wird einem Kind schon mal ein Schlafmittel verschrieben“, sagt Belinda Peregi. Sie hat das selbst erlebt, weil ihr erstes Kind bis zum Alter von dreieinhalb Jahren nicht durchgeschlafen hat. „Da verschrieb mir unser Kinderarzt ein Schlafmittel für meine Tochter, damit ich nicht zusammenbreche. Ich habe ihr das Mittel aber nie gegeben.“

Ins schöne Klischee passt auch nicht die Geschichte von Cécile Robert aus Straßburg, die schweren Herzens ihre erstgeborene Tochter mit vier Monaten in die Krippe gab. Ihr Mann studierte und verdiente keinen Cent. Weil sie in ihrer Mittagspause zum Stillen kam, drohte die Krippenleitung, ihr den Platz wegzunehmen. Das Kind sollte sich mittels des Fläschchens besser einfügen und weniger weinen. Cécile wollte sich nach der Geburt ihres zweiten Kindes nicht mehr so unter Druck setzen lassen und blieb anderthalb Jahre zu Hause. Da redete ihr Umfeld auf sie ein: „Dein Kind klebt an dir, ihr seid zu symbiotisch!“ Bei der Rückkehr in den Job bekam sie die Missbilligung ihrer Chefin für ihr langes Fernbleiben zu spüren. „Obwohl ich nur noch Teilzeit arbeitete, übertrug man mir ständig Aufgaben, mit denen ich bis abends um 20 Uhr im Büro saß. Ich musste einen Babysitter kommen lassen, der die Kinder aus der Betreuung abholte.“ Vor gut vier Monaten erlitt die 40-Jährige ein Burn-out. „Am Ende hab ich nur noch geheult. Ich hatte weder an meinen Kindern noch an meinem Job Freude.“ Nach einer Erholungsphase holte sie sich bei der Gewerkschaft Schützenhilfe. Jetzt geht sie pünktlich nach Hause.

Die Töchter der „Superfrauen“ sind auf der Suche nach ihrem eigenen Weg

In Frankreich formiert sich eine Bewegung, die hierzulande überdeckt wurde vom Begeisterungs-Hurra über den eigenen Krippenplatzausbau. Als im Mai eine Mutter aus einem Kaufhaus in Montpellier komplimentiert wurde, weil sie ihrem Baby dort die Brust gegeben hatte, tauchte der Vorfall in den großen Medien nicht auf. Aber im Internet machten zahllose Frauen in ganz Frankreich ihrer Empörung Luft. Alternative Elternzeitschriften wie Grandir Autrement, die sich für Bindung und Nähe aussprechen, finden immer mehr Leser.

Der Kinderarzt Adrian Serban und die Architektin Maryline Jury haben im April dieses Jahres die Association pour l’Attachement et l’Autonomie gegründet, übersetzt: Verein für Bindung und Selbstständigkeit. Zwei Begriffe, die in Frankreich traditionell als Antipoden gelten. Auf der Website veröffentlicht der Verein Vorträge und Fakten zum Thema Bindung, zu denen junge Eltern in Frankreich sonst wenig Zugang haben.

Die Töchter der „Superfrauen“ sind heute auf der Suche nach einem eigenen Weg. Sie verstehen unter Emanzipation nicht mehr nur Vollzeittätigkeit und frühes Ablösen von ihren Kindern. Noch sind sie in der Minderheit, aber ihre Bewegung ist bereits so bedeutend, dass sie Widerstand hervorruft. Keine Geringere als die französische Feministin und wortmächtige Philosophin Elisabeth Badinter, geboren 1944, schreibt gegen sie an. Für sie ist diese Entwicklung, die sie eine „Rückentwicklung“ nennt, Grund genug, ein ganzes Buch zu verfassen. In ihrem 2012 auch auf Deutsch erschienenen Bestseller Der Konflikt. Die Frau und die Mutter warnt sie vor der neuen Mütterlichkeit und den „Verführungen eines maternalistischen Feminismus“. Ihr Lieblingsfeind ist die das Stillen propagierende Organisation La Leche Liga, die Bindungstheorie betitelt sie als „Mär“.

Nichts wäre falscher, als zu glauben, dass Frauen wie Maryline Jury oder Cécile Robert ein Zurück an den Herd proklamierten. Sie alle lieben ihren Beruf. Aber das Korsett der Superwoman ist ihnen zu eng geworden, es schnürt sie ein. In Zukunft wollen sie selbst entscheiden, wie nah sie ihren Kindern sein dürfen und wann der richtige Moment gekommen ist, um sich von ihnen zu lösen.

Erschienen in Die Zeit 7/2013